Montag, 8. Januar 2007

Vladimir Lossky und sein Beitrag für die Orthdoxe Theologie des 20. Jh.

Einleitung

Vladimir Losskij ist ein ganz eigener Mensch, der die Orthodoxe Theologie mit seinem
Schaffen zutiefst bereichert hat. Ihn gilt es in diesem Versuch zu verstehen und sein
Werk angemessen darzustellen. Dabei kommt es uns besonders auf seine Methode und
sein Anliegen für die Theologie, mehr als auf einen lückenlosen Lebenslauf, eine
Werkbeschreibung oder –kritik an. Es geht natürlich nicht ohne einige Lebensdaten und
die Einordnung seiner Tätigkeit in geschichtliche und gesellschaftliche
Zusammenhänge (Wohl bemerkt kann der Verfasser dem nur in geringen Maß gerecht
werden).
Großes Gewicht kommt in dieser Darstellung seinem Hauptwerk, der Mystischen
Theologie des Morgenlandes zu, welches er ursprünglich in Französisch verfasste. Es
liegt heute in nahezu allen orthodoxen Landessprachen sowie in Englisch und in
Deutsch vor. Die deutsche Übersetzung, die hier zitiert werden muss, ist jedoch
äußerst fehlerhaft und regelrecht unbrauchbar, was bei der Wiedergabe stets zu
beachten ist.

1. Person

Vladimir Losskij wurde 1903 als Sohn des bekannten russischen Religionsphilosophen
und Universitätsprofessor Nikolaj Onufrijevich Losskij geboren. In St. Petersburg
begann er mit 17 Jahren sein Studium an der Fakultät für Kunst. Von den Stärken der
damaligen Petersburger Akademie profitierend, konnte er sein Denken hervorragend
entwickeln. Hier wurden auch schon die Bahnen für seine zukünftigen Arbeiten gelegt.
Nach 2 Jahren Studium (1922) teilte seine Familie das Schicksal vieler russischer
Denker und wurde aus dem inzwischen kommunistischen Land verwiesen. Losskij
musste sein Studium in Prag und schließlich an der Sorbonne in Paris beenden. Seine
beiden Interessengebiete, lateinische Mediävistik und griechische Patristik, konnte er
dabei kontinuierlich weiterverfolgen.
Besonders beschäftigte er sich Zeit seines Lebens mit Meister Eckhard, dem er mit
Dionysios Areopagita seine Dissertation widmete. A. Schmemann bemerkte dabei
„seinen ungewöhnlichen Sinn für die Integrität seiner wissenschaftlichen Arbeit,
welcher ihn dazu trieb, mehr als zwanzig Jahre an seiner Dissertation zu arbeiten; er
vollendete das Manuskript nur wenige Tage bevor er von uns ging.“(1)
An dem Institut St. Serge wirkte er als Dogmatiklehrer und gab dem Seminar bis zu
seinem plötzlichen Tod 1958 seine Prägung, nachdem A. Schmemann und andere
bedeutende Theologen bereits nach Amerika übergesiedelt waren.
Sein besonderes Bemühen lag darin, die orthodoxe Theologie dem Abendland bekannt
und verständlich zu machen. Dazu bemerkte sein Kollege Jean Meyendorff: „Unter den
Theologen unserer Generation war Vladimir Losskij einer von denen, die dem Westen
das orthodoxe Bekenntnis als bleibende und katholische Wahrheit und nicht nur als die
historische Form des östlichen Christentums darzustellen trachteten.“(2)
Viele Freunde sammelten sich stets um den bescheidenen Mann, der in einer kleinen
Pariser Wohnung seiner Berufung nachging, Denker zwischen Ost und West zu sein. E.
Gilson würdigte ihn mit folgenden Worten: „Ein gewisser Friede strahlte von diesem
bescheidenen, vollkommen einfachen guten Mann aus, dessen Geheimnis es vielleicht
war, wie aus einer gleichsam natürlichen Berufung unter uns den christlichen Geist zu
verkörpern.“(3)

2. Das Anliegen und die Vorgehensweise Losskij’s

Wie wir gesehen haben, lag Vladimir Losskij nicht nur die orthodoxe Theologie und
Dogmatik am Herzen, die er vorwiegend bei den Kirchenvätern studierte, er
interessierte sich zudem noch für das Mittelalter und die Philosophie des Abendlandes.
So bemühte er sich ernsthaft, sein Gegenüber zu verstehen und eine angemessene
Sprache zu finden, um mit ihm in Dialog zu treten. Kaum einem ist dies so gelungen
wie Losskij.
Er ließ sich in seinem Denken zuallererst von den Heiligen Vätern lenken, versuchte
ihnen nachzueifern und gab sie so wieder, wie es ihrem Geiste entsprach. Damit folgte
er im Wesentlichen dem Aufruf seines Freundes P. Georgij Florovskij an die Theologie
der Neuzeit, die Kirchenväter als Zeugen echter christlicher Erfahrung
wiederzuentdecken und in ihren Geist bei der Lösung neuer Herausforderungen
einzutauchen(4).
Die theologischen Herausforderungen, denen sich Losskij stellte, waren ihm schon
durch sein Leben als Exilant in Paris vorgegeben: Die römisch-katholische sowie die
protestantische Theologie und Spiritualität durch genauen Vergleich mit der östlichen
Erfahrung zu untersuchen und daraus die Mittel zu gewinnen, dem Westen das
Bekenntnis der Orthodoxie unverwechselbar und unmissverständlich darzutun.
„Ich will nur die Tatsache einer dogmatischen Verschiedenheit zwischen Osten
und Westen feststellen, ehe ich jene Elemente der Theologie betrachte, welche
die Grundlage der östlichen Spiritualität bilden. – Meine Leser mögen beurteilen,
in welchem Maß die Darlegung der theologischen Voraussetzungen der
orthodoxen Mystik ihnen das Verständnis einer Spiritualität erleichtert, die sich
von der der abendländischen Christenheit wesentlich unterscheidet.“(S. 29f)(5)
Die Orthodoxe Theologie konnte nur von seiner scharfen Messerführung profitieren,
mit der er das Innerste der beiden Traditionen freilegte, sie als im Wesen verschieden
voneinander entblößte und zugleich die Suche nach dem geheimnisvollen Augenblick
aufnahm, an dem sich ihre Wege trennten.
Sein Anliegen ist dabei jedoch nicht polemischer Art, er will dem Dialog dienen.
Gerade im gegenseitigen „Kennenlernen“ und Verstehen – und zwar nicht
oberflächlich oder nur in den Gemeinsamkeiten, sondern im Innersten – sieht er eine
Möglichkeit, die Trennung zu überwinden (Vgl. S. 30). Allerdings versucht er
gleichzeitig, die rationalen und intellektuellen Debatten zu vermeiden. Stets legt er
Wert auf die Erfahrung und die Wirkung der Dogmen und erlaubt sich nicht, sie
getrennt davon zu betrachten.
Um das Wesen der beiden Traditionen zu erkennen sollte man daher nach denjenigen
Suchen, welche die „Wahrheit“ ihrer Kirche authentisch in sich aufgenommen und
verwirklicht haben und muss deren Leben, die „Früchte“ ihres Glaubens studieren.
„Dann erst werden wir erkennen, welch inniger Zusammenklang besteht
zwischen dem Dogma, das die Kirche bekennt, und den geistlichen Früchten,
die sie hervorbringt, denn die innere Erfahrung eines Christen verwirklicht sich in
dem durch die Kirche gezogenen Kreis, in dem Rahmen des Dogmas, das seine
Persönlichkeit formt.“(S. 28)
Tatsächlich hat Losskij auch die Heiligen des Morgen- wie des Abendlandes als
vollkommenste Vertreter des gelebten Bekenntnisses untersucht.
Im Rahmen dieser Methodik der „vergleichenden Dogmatik“, die er aber von der
gleichnamigen theologischen Disziplin unterschieden wissen will (Vgl. S. 29), gelingt
ihm eine in erster Linie für den westlichen Menschen zugeschnittene Darstellung der
orthodoxen Dogmatik. Man kann also durchaus von einer apologetischen oder gar
missionarischen Absicht in seinen Werken sprechen.
Doch stellt er einen neuen, genuin orthodoxen, Ansatz zur Systematisierung der
kirchlichen Lehre vor. Man könnte ihn vergleichen mit einem Kranz, der sich um ein
Zentrum gruppiert; das Zentrum aber ist die Dreifaltigkeit, denn der Bezug aller
„Themen“ der Systematischen Theologie auf den dreieinen Gott soll die soteriologische
Grundausrichtung der Theologie gewährleisten. D.h., dass kein theologischer Gedanke
a se gedacht wird, kein Problem von dem Allproblem der Erlösung getrennt wird, oder:
der Sinn der Theologie allein im Heil des Menschen liegen darf, welches in Gott selber
liegt.
In gewisser Hinsicht lässt sich dieser Ansatz mit der beinahe zur gleichen Zeit bekannt
gewordenen Theologie des Archimandriten V. Justin Popvic vergleichen, der jedoch
den Gott-Menschen Christus als Schlüssel zur Erlösung ins Zentrum stellt.
Bedauerlicher Weise hat Losskij scheinbar seinen ihn in christlicher Lebensführung und
an geistiger Größe überragenden Zeitgenossen nicht wahrgenommen, wie auch die
gesamte sog. Pariser Schule, in deren Fahrwasser er Zeit seines Lebens
mitgeschwommen ist.

Die Dogmen sind nach Losskij nicht trockene Definitionen eines Philosophischen
Systems, sondern stehen in engster Beziehung zur religiösen Erfahrung der Menschen in
der Kirche, die der geisterfüllte Leib Christi ist. Damit weist er auf den
gottmenschlichen Charakter der Dogmen hin, die Ausdruck der Gotteserfahrung
vergöttlichter Menschen sind und den Christen Wegweiser zur Gottsuche, Garanten für
das Heil in Christus sind, der von sich sagte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das
Leben.“ Dabei „definieren“ die Dogmen ausdrücklich die einzige und ewige Wahrheit
über Gott, die unumstößliche Grundlage des Christentums.
Die Heiligen Väter der Kirche legen Zeugnis für diese eine Wahrheit ab und dürfen
daher nicht als „christliche Denker“ oder „Philosophen“ mit ihren je eigenen
„Theorien“ gelesen werden. Dies demonstriert Vladimir Losskij in seiner Mystischen
Theologie des Morgenlandes deutlich, indem er die Väter auf eine besondere Weise
zitiert, die sowohl von der scholastischen Zitationspraxis, Autoritäten bzw. Meinungen
wiederzugeben, um sie dann nach belieben „auszulegen“, als auch von der
wissenschaftlichen Methode, „Belege“ für die eigene Meinung anzuführen, bewusst
abweicht. Die Kirchenväter werden als Zeugen für die Lehre der Kirche, nicht als
„Quellen“ für die Erforschung eines „Gegenstandes“ behandelt. „Gegenstand“ ist die
eben die Lehre der Kirche(6).
Damit kehrt er „zurück zu den Vätern“ und praktiziert mutig, was die Kirchenlehrer
selbst taten: sich in die Tradition hineinzustellen, anstatt sie mit einer vermeintlichen
„Objektivität“ von außen (oder von oben herab) zu untersuchen.

3. Das Wesen der Trennung zwischen Ost und West

Für Losskij ist der Glaube ein organisches Ganzes, dessen Mitte und maßgebender Kern
die Dreifaltigkeit ist, die „höchste Wirklichkeit, die von keiner anderen Wahrheit aus
erkannt oder abgeleitet werden kann, weil es nichts gibt, was ihr voranginge.“(S. 83)
Sie macht das Wesen der Theologie und dazu das Wesen all derer aus, die mit dem
Glauben an Sie leben. Mit der Heiligen Dreiheit hängt die gesamte Lehre der Kirche
zusammen. Wenn hier jedoch eine Abweichung auftritt, wird alles Übrige in
Mitleidenschaft gezogen. „Zwei getrennte Traditionen stehen“ dadurch „einander
gegenüber“, wie es gegenwärtig die östliche und die westliche tun. Und diese Kluft
gähnt gerade über dem Kern des Ganzen, weswegen sie auch überall spürbar ist.
„Selbst das, was ihnen bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gemeinsam war,
erhält rückblickend einen verschiedenen Akzent und erscheint gegenwärtig in
einem anderen Lichte, wie geistige Gegebenheiten, die zwei verschiedenen
Erfahrungsbereichen angehören.“(S. 303)
Dadurch stehen sich nicht nur gegensätzliche Lehren gegenüber, sondern auch
wesensfremde Menschen. Losskij macht das an einem Beispiel klar:
„Wenn schon eine Doktrin, welche die Mitglieder einer politischen Partei
bekennen, ihre Mentalität so beeinflusst, dass sie zu Menschentypen werden, die
sich von den anderen durch moralische und seelische Merkmale unterscheiden,
um wie viel mehr wird es dann dem religiösen Dogma gelingen, die Herzen
jener umzuwandeln, die es bekennen, und sie zu Menschen zu machen, die sich
von denen, die durch eine andere dogmatische Auffassung geformt wurden, in
ihrem ganzen Wesen unterscheiden!“(S. 28)
Mit Scharfsinn machte er jenen Punkt aus, an dem sich die Geister schieden, nämlich
in dem an sich so unscheinbaren Wort, um das dennoch so unerschöpflich gerungen
wurde: Filioque:
„Das Filioque war die einzige, ausschlaggebende Ursache der Trennung
zwischen dem Osten und dem Abendland: alle übrigen dogmatischen
Meinungsverschiedenheiten waren nur deren Auswirkung.“(S. 73)
Mit diesem Wort hängt natürlich eine umfassende Lehre über den Hl. Geist zusammen,
der allein im Abendland Heimatrecht gewährt worden ist. Diese Lehre betont die
Einheit der Natur auf Kosten der Unterscheidung der göttlichen Personen. Die
Ursprungsbeziehungen werden zu einem Bezugssystem in dem einen Wesen(7). Eine
Mystik der göttlichen Wesenheit, wie sie beispielsweise bei Meister Eckhart feststellbar
ist, war die Folge (Vgl. S. 83f).
Ferner wird der Heilige Geist als Person entwertet, indem er bei einer von Augustinus
adoptierten Theorie zu einer Relation oder Eigenschaft der zwei anderen Personen
degradiert wird. Dieser augustinische Psychologismus führt Prinzipien der geschaffenen
Welt in die ungeschaffene Heilige Dreiheit ein, was nach Losskij unzulässig ist, da es
nichts geschaffenes gibt, von dem man Sie ableiten könnte (Vg. S. 74f).
Die römisch-katholische Lehre vom Hl. Geist ist Bestandteil der Trinitätslehre, womit
sie im postulierten Zentrum der Theologie überhaupt steht. Sie hat dadurch ihrerseits
den westlichen Christen und seine Kirche geprägt. Die tief greifenden Reformen der
mittelalterlichen Päpste, durch welche die röm.-kath. Kirche anerkannter Weise ihr
heutiges Gesicht erhalten hat, standen dadurch im Schatten einer neuen, verfälschten
Frömmigkeit, die Losskij an vielen Stellen versucht aufzuzeigen und in Beziehung zur
römisch-katholischen Trinitäts-theologie zu stellen.
Da Losskij einen traditionellen patristischen Ansatz in der Lehre über die Heilige
Dreiheit bietet(8) – was er freilich auf meisterhafte Weise tut – erscheint es nicht
notwendig sie hier darzustellen. Es kommt hier mehr auf seine besonderen Akzente an,
als auf Vollständigkeit. Auch seine spezielle Kritik an den westlichen Systemen muss
ich hier übergehen.

4. Dogma und Mystik

Dogmen sind für Losskij Erfahrungen der Kirche, die in der Sprache festgehalten
werden, um den Weg zu ihnen allen Christen aufzuzeigen. Anders gesprochen sind die
Dogmen mystisch erfahrbare Wahrheiten, die in einem Vorgang, der den ganzen
Menschen verwandelt und ihn für das Heil öffnet, angeeignet werden. Die
theologischen Wahrheiten sind Grundlage jeder mystischen Annäherung an Gott. Es
besteht also eine wechselseitige Beziehung:
„Theologie und Mystik schließen einander nicht aus: im Gegenteil, sie stützen
und ergänzen einander. Die eine kann ohne die andere nicht existieren: wird in
der mystischen Erfahrung der allgemeine Glaubensinhalt zum persönlichen
Erlebnis, so drückt die Theologie zum Nutzen aller das aus, was von jedem
einzelnen erfahren werden kann.“(S. 13)
Die Dogmen stellen daher immer eine Harmonie von Erfahrung und Theologie dar. So
ist die richtige Lehre Mittel zur rechten Erkenntnis Gottes und entscheidet über die
„Nähe“ des Menschen zu Gott.
Man muss sie sich also aneignen und dem Gläubigen darf „kein einziges der Mysterien
der geheimsten Weisheit Gottes [...] fremd oder völlig transzendent erscheinen, sondern
wir sollen in aller Demut unseren Geist an die Kontemplation der göttlichen Dinge
gewöhnen“(S. 12).
Woher kommen aber diese Heilslehren? Sie sind uns Von Gott offenbart worden und
werden durch den Heiligen Geist den Gläubigen eröffnet. Dies geschieht wiederum,
wie Losskij oftmals bedeutet, durch mystische Erfahrung eben dieser Wahrheiten.
Im Lichte dieses engen Zusammenhanges von Dogma und Erlösung erscheinen auch
die dogmatischen Kämpfe im Laufe der Jahrhunderte als Kämpfe um das Heil der
Menschen, sie sind „von einem, vorherrschenden Anliegen der Kirche beherrscht, in
jedem Augenblick ihrer Geschichte den Christen die Möglichkeit zu wahren, zur Fülle
mystischer Gottverbundenheit zu gelangen.“(S. 14) Das kann man besonders daran
erkennen, in welch inniger Beziehung sie beständig zum Erlösungsmysterium stehen.
Ihre Triebfeder ist das Heil in Christus.
Nur so kann man wiederum verstehen, warum die Dogmen und nicht die Politik oder
historische Unfälle die Ursache der großen Kirchenspaltung zwischen Ost und West
waren. Mögen auch die Auslöser, die Funken, welche das Fass zum Explodieren
brachten, politischer Natur gewesen sein, die entgegenwirkenden Kräfte begannen
schon vorher zu wirken, die innere Entfremdung war bereits weit fortgeschritten.
Auch heute stehen wir mehr oder minder auf den gleichen Posten. Die von den
Patriarchaten des Ostens allezeit am Westen gebrandmarkten Abweichungen vom
Apostolischen Glauben, sind noch Heute per „Dogma“ festgelegte Lehre des
Papsttums, sogar schlimmer: noch im 19.Jh. wurde die Liste der Verschiedenheiten
entschieden vermehrt (1.Vatikanum). Vereinzelte „Hoffnungs-schimmer“ im 20. Jh.
haben den derzeit in Aporie geratenen Dialog zwischen Ost und West nicht wesentlich
vorangebracht. Das beweist noch einmal die von Losskij erkannte Tatsache, dass die
Dogmen – nicht die Politik – entscheidende Ursache der Trennung sind.

5. Apophatische Theologie – Dogmen als Antinomien

Bei der Darstellung der Dogmen kommt Losskij immer wieder zu dem Schluss, dass sie
letztlich Geheimnisse ansprechen, die jeglichen Verstand übersteigen. Jeder Versuch,
sich ihnen ehrfurchtsvoll zu nähern, endet in der Apophatik, der Erkenntnis, unmöglich
das Mysterium in adäquate Worte oder Gedanken zu fassen. Anders als die „negative
Theologie“ des Westens stellt die Apophatik idealer Weise eine ständige Geisteshaltung
dar, die „darauf verzichtet, sich Begriffe von Gott zu bilden; jede abstrakte, rein
verstandesmäßige Theologie, die die Mysterien der Weisheit Gottes dem menschlichen
Denken anpassen will, wird radikal abgelehnt.“(S. 50)
Die Erkenntnis steht damit in engster Beziehung zum geistigen Leben des Menschen.
Dieses besteht zunächst in dem Tugendstreben, in der Reinigung durch Buße
(μetano€a) und der Konzentration der Kräfte auf das Gebet zu Gott. Die geistigen
Erfahrungen auf diesem Weg der Askese und die Wesensänderung durch Umkehr
machen geistige Erkenntnis überhaupt möglich und sind die ständige Voraussetzung für
die Annäherung an Gott wie an seine göttlichen Geheimnisse, die Dogmen. Dazu
bedarf es einer erfahrenen Anleitung durch die geistigen Väter, besonders aber durch
die asketischen «Väter der Nüchternheit»(9). Man erlangt dabei nicht rationales Wissen
über Gott, sondern gewärtigende (d.h. bewusste) Erfahrung des Göttlichen:
„Es ist eine existenzielle Haltung, die den ganzen Menschen in Anspruch nimmt:
sie lehrt, dass es keine Theologie außerhalb der Erfahrung gibt und dass man, will
man zu dieser Erfahrung gelangen, ein neuer, gewandelter Mensch werden
muss.“(S. 51)
Dieses Ziel der größten für Menschen möglichen „Erkenntnis“(10) Gottes verwirklicht sich
in der Schau des göttlichen Lichtes. Schau ist nach Gregor Palamas eine ganzheitliche
Erfahrung, ein die Vernunft zwar einbeziehende aber zugleich übersteigende
Wahrnehmung oder Gewärtigung der Energien Gottes durch den von jeglicher
bildlichen oder begrifflichen Vorstellung befreiten Menschen. Hierin liegt auch die
wahre Bestimmung der Vernunft: Als Teil im Ganzen des Schauenden Menschen.

6. Zwei Aspekte der kirche

Das Heilsmysterium der Kirche ist für Vladimir Losskij ein zentrales Thema. Er teilt es
ein in „die Heilstat des Sohnes“ und „die Heilstat des Heiligen Geistes“(11). Christus hat
die Natur des Menschen in sich geheilt und vergöttlicht, an welcher als dem neuen
Adamsgeschlecht alle Teilhaben, die Christi Leib und Blut empfangen haben, also
Glieder seiner Kirche sind. Die Natur wird dabei als Einheit der Erlösten, als der neue
versammelte Adam gesehen.
In dieser Gemeinschaft geht der Mensch jedoch nicht völlig auf. Durch die Herabkunft
des Heiligen Geistes auf die Pfingstkirche wird vornehmlich die Person des Einzelnen
beschenkt und verwirklicht. Der Geist wird nach Losskij als einziger der Heiligen
Dreiheit nicht durch eine andere Person geoffenbart(12). Seine Person bleibt in gewisser
Hinsicht verborgen, „er kommt im Namen des Sohnes, um für den Sohn Zeugnis
abzulegen – so wie der Sohn im Namen des Vaters gekommen ist, damit wir den Vater
kennen lernen. [...] Die göttlichen Personen bezeugen sich nicht selbst, sondern Eine
legt für die Andere Zeugnis ab“ (S. 202f).
Die dritte Hypostase der Dreiheit habe jedoch als einzige nicht Ihr Abbild in einer
anderen Person (Vgl. Ebd.). Dabei ist Sie auf geheimnisvolle Weise in allen Christen
gegenwärtig und manifestiert sich in mannigfachen Geistgaben. Sie ist die Vielnamige
(Vgl. 203) und in Vielfalt auftretende, die jedoch immer irgendwie „unpersonell“
erscheint. Der Hl. Simeon, der neue Theologe, besingt den Heiligen Geist in
apophatischen Ausdrücken: „Komm, wahres Licht; komm ewiges Leben; komm,
verborgenes Mysterium; komm, Du Schatz sonder Namen; komm, Du
Unaussprechlicher; komm, Du unerkennbare Person...“ (S. 203).
Losskij vermutet daher, dass die vergöttlichten Menschen, die vom Hl. Geist einzeln
angenommenen Personen, Ihn offenbar machen. Der Geist beliebt, sich jedem
individuell verschieden zu schenken, Er geruht sich in den einzelnen Menschen zu
„personifizieren“ und daher scheinbar auf Seine eigene „Persönlichkeit“ zu verzichten,
indem er sich ganz den Menschen schenkt, in ihren Personen aufzugehen scheint.
So wird für ihn der Mensch von Gott ganzheitlich angenommen: seine Natur wird in
die Natur Christi eingepfropft und seine Person wird vom Geist je zu seiner
individuellen Vollkommenheit geführt und gottähnlich verlichtet. Diese Dialektik(13)
macht für Losskij das Mysterium der Kirche aus.
Es ist verwunderlich, dass er in dieser Ansicht gerade von seinem Gesinnungsgenossen
V. Georgij Florovskij scharfer Kritik ausgesetzt war(14). Die Heilstat des Sohnes schien
Florovskij zu „statisch“ und zwingend im Gegensatz zur mehr „dynamischen Freiheit“
des Geistes. Losskij erwiderte daraufhin, dass für ihn die beiden Ökonomien nicht im
Gegensatz zueinander stünden, sondern sich vielmehr gegenseitig ergänzten und
durchdrängten(15).
Er legte mit dieser Theorie einen selbstständigen Beitrag zur Dogmatik vor, bei dem er
sich nicht – wie sonst – auf die Väter, sondern mehr auf seine eigene Schulter zu
stützen wagte. Die kommenden Väter werden dies zu beurteilen haben.

Schluss

Losskij war kein Philosoph, er war Theologe. Im orthodoxen Verständnis heißt das
Zeugnis ablegen für den Glauben der Kirche. Die breite Annahme seiner Dogmatik in
der neuen orthodoxen Theologie beweist, dass ihm dies gelungen ist. Die mystische
Theologie der Morgenländischen Kirche trägt daher das volle Verdienst, der „erste
erwähnenswerte Versuch einer neopatristischen Synthese“(16) zu sein.
Mit seinem im Umfang eher bescheidenen Nachlass vermochte er doch entscheidende
Impulse für die akademische Theologie zu geben. Ihm verdankten die nachfolgenden
Generationen von Theologen zu einem guten Teil die von Florovskij herbeigesehnte
Abstreifung der scholastischen Schablonen, denn erst Losskij lieferte greifbare Ansätze
zu einer alternativen Methode, welche vielleicht besser geeignet ist, die Orthodoxe
Theologie darzustellen. Es scheint mir nur, dass die „Theologie“, von der hier die Rede
ist, trotz Losskij ́s Versuch eines Ankerwurfes in das kirchliche Leben, irgendwie im
esoterischen Raum des Akademisch-Wissenschaftlichen eingeschlossen bleibt.

Anmerkungen

1) St. Vladimir’s Seminary Quarterly, Vol. 2 – neue Serie, No. 2, Spring 1958, S. 47-48
2) Jean Meyendorff (Hg. u.a.), Schau Gottes (von Vladimir Losskij), Zürich 1964, S. 7
3) Aus dem Vorwort zur posthumen Herausgabe von Losskij ́s Dissertation, Zit. bei Jean
Meyendorff (Hg. u.a.), Schau Gottes (von Vladimir Losskij), Zürich 1964, S. 7f
4) Vgl. Paul Evdokimov, Christus im russischen Denken (Sophia Bd. 12), Trier 1977, S. 232
5) Im Folgenden wenn nicht anders angegeben zit. aus Vladimir Lossky, Die mystische
Theologie der morgenländischen Kirche, Graz 1961
6) So auch K. Ch. Felmy, Die Orthodoxe Theologie der Gegenwart. Eine Einführung,
Darmstadt 1990, S. 15
7) Paul Evdokimov, Christus im russischen Denken (Sophia Bd. 12), Trier 1977, S. 237f
8) Vgl. K. Ch. Felmy, Die Orthodoxe Theologie der Gegenwart. Eine Einführung, Darmstadt
1990, S. 40-49
9) Daher stellt auch Losskij die Frage der Gotterkenntnis unter besonderer Berücksichtigung
des asketischen Schrifttums dar; vgl. K. Ch. Felmy, Die Orthodoxe Theologie der
Gegenwart. Eine Einführung, Darmstadt 1990, S.6
10) Die Bedeutung dieses Wortes wird hier schon überschritten.
11) So die Titel zweier Kapitel in Losskij ́s mystischer Theologie
12) Losskij leugnet damit nicht die „Sendung“ des Hl. Geistes durch den Sohn.
13) Paul Evdokimov, Christus im russischen Denken (Sophia Bd. 12), Trier 1977, S. 238
14) Vgl. Ebd.
15) Ebd.
16) A.a.O., S. 236

Literaturliste

- Evdokimov, Paul, Christus im russischen Denken (Sophia Bd. 12), Trier 1977
- Felmy, K. Ch., Die Orthodoxe Theologie der Gegenwart. Eine Einführung, Darmstadt
1990
- Lossky, Vladimir, Die mystische Theologie der morgenländischen Kirche, Graz 1961
- Ders., Schau Gottes (Hg. u.a. Jean Meyendorff), Zürich 1964

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Danke für den schönen Beitrag!

Anonym hat gesagt…

viel gelernt