Mittwoch, 17. Januar 2007

Die Einheit der Kirche bei Cyprian von Karthago

Von Br. Johannes (John) Bandmann

Einleitung 

In diesem Referat sollen einige Aspekte der Ekklesiologie des Heiligen Cyprian an Hand von ausgewählten Stellen seiner Werke dargestellt werden. Cyprian scheint mit seinem Kirchenbegriff ein guter Zeuge für das altkirchliche und orthodoxe Bewusstsein zu sein, da er als Bischof von Karthago viele Probleme mit großem Geschick und Weisheit bewältigte und in seinen Werken reflektierte, zumal in seiner Zeit viele ekklesiologischen Fragen zum ersten Mal überhaupt auftauchten und ihn auf praktische und theoretische Lösung drängten. Dabei unterstellen manche ihm m.E. zu Unrecht, dass seine Schriften nur pragmatische Entwürfe darstellten und er noch kein geschlossenes „System" entwickelt hätte. Er kannte sicherlich noch keine „theologia speculativa", welche sich in umfangreichen, alles determinierenden Summen ergossen, hatte aber schon eine klare und strukturierte Vorstellung von dem, wovon er sprach.

Stets entfachte sich die Polemik zwischen katholischen und protestantischen Gelehrten mit Vorliebe an den Werken des karthager Bischofs. Für die katholische Theologie schienen sie eine Stütze für die Entstehungstheorie des päpstlichen Primats. In reformierten Kreisen wurde dagegen erkannt, das Cyprian kein Zeuge für einen röm. Primat sein kann, andererseits wurde seine Theologie als ein Markstein auf dem Weg zu einer Fehlentwicklung der Kirche in Bezug auf ihr Selbstverständnis betrachtet. Aus dem anfänglichen Zwiespalt über die richtige Interpretation der Worte des Heiligen[1] wurde in jüngerer Zeit ein Prinzipienstreit über die dogmengeschichtliche Bedeutung jenes Traktates. Maßgebend wurde seine Einschätzung auf protestantischer Seite von A. von Harnack beeinflusst, dessen Ideen von der Urkirche auch Heute mehr oder weniger vorausgesetzt werden. Auf der anderen Seite hat die katholische Apologetik inzwischen einen neuen Weg eingeschlagen, um den Primat Roms zu rechtfertigen. Das alten Schema[2], der Primat bestünde von Anfang an und sei von Petrus begründet, ist durch die kritische Kirchengeschichtsforschung bzw. durch das unvoreingenommene Quellenstudium auf beiden Seiten überwunden. An seine Stelle tritt nun eine „Evolutionstheorie" der Vorrangstellung Roms, die eine Entwicklung zur mittelalterlichen Machtfülle hin aufzuzeigen versucht und als eine Verwirklichung des biblisch begründeten Anspruchs der Bischöfe Roms interpretiert wird[3]. Für die orthodoxe Theologie ist eine solche Tendenzgeschichtsschreibung unannehmbar, wollen wir von einer ungeteilten Kirche mit gleicher Tradition im ersten Jahrtausend ausgehen. Das Verständnis der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen mit einander und mit Gott ist Grundvoraussetzung für das Kirchesein überhaupt. Eine absolutistische Verfassung kann dagegen nicht dem Geist der Kirche entsprechen.

Vergleichend kann man sagen, dass die protestantische Theologie den Anfang, die katholische das Ende der Entwicklung Idealisiert, die Orthodoxen dagegen eine Entwicklung der weltlichen Manifestation der Kirche bejahen, die aber ihren Abschluss in der Patriarchalstruktur gefunden hat. Das Episkopat dagegen unterliegt keiner Entwicklung, es entstand schon zu Lebzeiten der Apostel, wie man zum Beispiel aus den Pastoralbriefen ersehen kann. Allein die Probleme, die durch die gnostischen Sekten für die Gemeinden entstanden, waren nicht das Ausschlaggebende für solch eine Entwicklung, sie vollzog sich natürlich[4] und im Geiste der Apostel[5].

Daneben existierten eine Zeit lang charismatische Ämter, wie die Evangelisten und Propheten der ntl Briefe. Ihre geistmächtigen Handlungen störten sich jedoch immer wieder mit denen der „Aufseher" (§p€skopoi), wie wir schon aus den Warnungen der Didache ersehen können, oder aus umgekehrter Perspektive in den Briefen des Apostels Johannes, der als Apostel von einigen seiner Presbyter nicht mehr respektiert wurde. Auch Cyprian von Karthago bekam das eigenmächtige Vorgehen mancher Charismatiker unter den Bekennern zu spüren, die ihm anordnen wollten, wem von den in der Verfolgung gefallenen er wieder Gemeinschaft gewähren sollte. Sündenerlass und Rekonziliation hielt Cyprian für exklusive Bischofshandlungen, da für ihn das Bischofsamt die Kirche auf Erden repräsentierte und es folglich nur diesem zustehe, im Namen der Kirche zu handeln. Wer gegen den Bischof ist, der steht außerhalb der Kirchengemeinschaft. Die Kirche jedoch, der alle hohen biblischen Weissagungen und Prädikate gelten, ist nach ihm die eine Heilsanstalt, außer welcher es kein Heil gibt[6]. Dadurch impliziert er keine Vollmacht der Bischöfe über Heil und Unheil der Menschheit, welche allein Gott zusteht; die Gemeindeleiter sind jedoch Repräsentanten der göttlichen Ordnung, Abbilder Christi, des wahren Hauptes der Kirche, der bei ihr ist bis ans Ende der Tage.

Das irdische Regulativ der hohepriesterlichen Gewalt ist die Koinonia der Bischöfe als Voraussetzung für die Legitimität der einzelnen. Hier gab es Anfangs sicherlich unterschiedliche Traditionen, wie die Einsetzung der Bischöfe durch das Volk (so in Mailand bezeugt), oder durch Presbyter (Ägypten) bzw. durch die Diakone (Rom), was auch Konsequenzen für das Absetzungsverfahren haben konnte. Mit Ausnahmen setzte sich jedoch die orientalische Regelung durch, nach der die Nachbarbischöfe (später die Bischöfe der Eparchie) für eine herrenlos gewordene Gemeinde den Nachfolger durch Handauflegung einsetzen mussten.

Unverrückbar fest steht bis Heute das Prinzip der Gleichheit aller Bischöfe, gemäß ihrer einen hohepriesterlichen Weihe. In einem ebenfalls natürlichen und notwendigen Prozess entstand eine Rangordnung unter ihnen, die sich an den politischen Strukturen des römischen Imperiums orientierte. Die kirchlichen Strukturen sind damit keineswegs nur für jenes Staatssystem geeignet, das Römische Reich war ja in seiner Strukturierung nicht einzigartig, sondern eher gewöhnlich und natürlich. Die Aufteilung eines Landes in Regionen mit deren Verwaltungszentren und der einen Landeshauptstadt sind stets wiederkehrende Formen der Verwaltung. Die politische Hierarchie richtet sich genau nach diesen Staatsstrukturen, wonach es für eine politische Einheit einen Patriarchen in der Hauptstadt, Metropoliten in den regionalen Verwaltungszentren und Ortsbischöfe in möglichst jeder größeren Stadt geben sollte. Unter den Patriarchen gibt es zusätzlich eine Ehrenrangordnung, die geschichtlich begründet ist und mit dem einstigen Ansehen der Kirchen sowie mit der Reihenfolge ihres Endstehens zusammenhängt. Hier allein nimmt Rom den ersten Platz ein, der Bischof von Konstantinopel den zweiten, usw..

Nach diesen einführenden Gedanken wollen wir uns ganz den Schriften Cyprians widmen, dessen Worte für sich sprechen dürften.

 

 

1. Die Kirche als Organismus

 

Der Hl. Cyprian fühlt sich aufs engste mit der Kirche und ihren Gliedern verbunden, es kommt einem vor, er redete von einem lebendigen Organismus. Das Bild von der Mutter Kirche, das er von Tertullian – seinem „Meister" – übernimmt, stellt in einer für das Abendland spezifischen Weise[7] den Gläubigen der Kirche als seiner Mutter gegenüber. Es taucht in seinen Worten immer wieder auf: „Mit welcher Freude nimmt euch eure Mutter, die Kirche, bei eurer Rückkehr aus dem Kampfe wieder in ihrem Schoße auf! Wie selig, wie froh öffnet sie euch ihre Pforten, damit ihr in geschlossenem Zuge zusammen einzieht mit den Trophäen des Sieges über den niedergestreckten Feind."[8] Hier begrüßt Cyprian die Bekenner seiner Gemeinde, die vom Kampfplatz des Glaubens zurückkehren. Die Freude, der er Ausdruck verleiht, ist auch seine Freude. Diese innere Verbundenheit kommt besonders auch dort zum Tragen, wo der Leib der Kirche durch gefallene Glieder verletzt wurde: „Mehr der Tränen bedarf es als der Worte, um dem Schmerze Ausdruck zu geben, mit dem die unserem Körper geschlagene Wunde zu beweinen, mit dem der vielfache Verlust an dem einst so zahlreichen Volke zu beklagen ist. Denn wer wäre so hart und gefühllos, wer so aller brüderlichen Liebe bar, dass er inmitten des mannigfachen Sturzes der Seinigen, inmitten der traurigen, durch reichlichen Schmutz entstellten Trümmer seine Augen trocken zu halten vermöchte und nicht allsogleich in Weinen ausbräche und seinem Jammer eher in Tränen als in Worten freien Lauf ließe? Ich leide, ihr Brüder, ich leide mit euch, und die eigene Erhaltung und das persönliche Wohlbefinden tröstet mich nicht über meinen tiefen Schmerz hinweg, da ja der Hirte in der Verletzung seiner Herde noch schwerer betroffen wird. Mit jedem einzelnen fühle ich mich im Herzen eins, mit jedem einzelnen teile ich die jammervolle Last der Trauer um den schweren Verlust [...]."[9]
Er als der Hirte empfindet um so mehr den Schmerz der Trennung, da er in besonderer Weise mit allen verbunden ist. Die Gefallenen sind jedoch der Kirche entfremdet, ihre Verleugnung des Glaubens an Christus hat sie aus dem Leibe ohne Ausnahme herausgeschnitten. Sie sind dadurch vom Leben in Christus getrennt, der seelische Tod ist die Folge dieser Krankheit, es sei denn eine Umkehr findet statt, eine Buße, die vollkommene Umkehr möglich macht. Ohne Reue in die Kirche aufgenommen zu werden bringt dagegen beiden Seiten Schaden: „Es ist nämlich, geliebteste Brüder, eine ganz neue Art von Unheil aufgetaucht und, gleich als ob der Sturm der Verfolgung noch zu wenig gewütet hätte, ist zu allem Überfluss unter dem Scheine der Barmherzigkeit ein trügerisches Übel und ein verführerisches Verderben noch hinzugekommen. Im Widerspruche mit der Strenge des Evangeliums, im Widerspruche mit dem Gesetze unseres Herrn und Gottes wird von einigen voll Leichtfertigkeit den Unvorsichtigen ohne Weiteres wieder die Gemeinschaft gewährt, ein ungültiger und falscher Friede, gefährlich für die Spender und ohne Nutzen für die Empfänger. Sie verlangen kein geduldiges Warten auf die Rückkehr der Gesundheit, nicht das wahre Heilmittel der Genugtuung; die Buße ist aus ihrem Herzen gebannt, die Erinnerung an die so schwere und schreckliche Sünde ist getilgt. Verdeckt werden die Wunden der Sterbenden, und den tödlichen Stoß, der tief im Innersten sitzt, verhüllt man, indem man das Leiden verborgen hält."[10] Die Buße ist das einzig mögliche Heilmittel für die Sünder. Cyprian urteilt hier nicht einfach „streng", das Evangelium, ja das heilsame Gesetz Gottes sind für ihn strenge Richtschnur für das Heilsame. „Leichtfertig" und „unvorsichtig" erscheint dagegen der Versuch, ohne „Heilung" in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Der Schaden ist die ungeheilte Wunde, welche in den Organismus Kirche hineingetragen wird. Offenbar kann aber die Kirche keine Gemeinschaft mit den Gefallenen haben; diejenigen, die solche wieder aufzunehmen versuchen, werden zu Mitleidenden an der tödlichen Wunde, sie haben sich mit Unreinem verbunden, ihre eigene Verbindung zum gesunden Leib Christi wird dadurch in Frage gestellt. Gleichzeitig laden sie selbst Schuld auf sich, da sie die Sünder hindern, zur Einsicht und Umkehr zu kommen, indem sie die „Wunden" vor den Kranken verbergen.
Doch gibt es einige, welche die Realitäten des geistigen Lebens nicht wahr haben wollen, sie halten es für christliche Nächstenliebe, Gemeinschaft mit Kranken zu haben. Der Hl. Cyprian dagegen negiert diese Gemeinschaft und spricht einer solchen jeden Wert ab: „Für Frieden halten sie das, was einige mit trügerischen Worten anpreisen. Nicht Frieden ist das, sondern Krieg; und wer vom Evangelium sich losreißt, der bleibt nicht mit der Kirche vereinigt. Warum nennen sie das Unrecht eine Wohltat? Warum bezeichnen sie die Gottlosigkeit mit dem Namen Frömmigkeit? Warum halten sie Sünder, die beständig weinen und zu ihrem Herrn flehen sollten, von bußfertiger Wehklage zurück und stellen sich, als könnten sie ihnen die Aufnahme in die Gemeinschaft erteilen?"[11] Vom Evangelium haben sich solche losgerissen, d.h. von der Hoffnung und dem Glauben, daher können sie nicht ohne Buße in die Kirche zurückkommen. Wem genau aber gilt ein solches Urteil? Zum einen den Leugnern des Glaubens, den Abgefallenen, zum anderen und auf andere Weise auch den Schismatikern und Irrlehrern, denn auch sie sind vom Widersacher bewirkt um Trennung, um Unheil zu bringen: „Irrlehren und Spaltungen erfand er da (der Teufel), um durch sie den Glauben zu untergraben, die Wahrheit zu fälschen, die Einheit zu zerreißen. Diejenigen, die er in der Finsternis des alten Weges (vorchristliche Unwissenheit/ Heidentum) nicht festzuhalten zu vermag, die umgarnt und verleitet er auf einen neuen Irrpfad. Aus der Kirche selbst reißt er die Menschen los, und während sie sich einbilden, bereits dem Lichte nahe gekommen und dem Dunkel der Welt entronnen zu sein, hüllt er sie, ohne dass sie es merken, wieder in eine andere Finsternis."[12] Hier sieht man ganz deutlich, dass für den Hl. Cyprian keine Gruppierung, die der sichtbaren Kirche eines Bischofs opponiert, auch wenn sie eigene Bischöfe, Priester usw. hat, schlichtweg Betrug und Schein ist. Das Heil, oder besser: der heilsspendende Geist Gottes ist in solch einer Versammlung nicht tätig. Ihre Mitglieder kennen selbst das Evangelium nicht, denn der Geist offenbart es nur den Christen. Diese aber sind keine Christen: „So nennen sie sich Christen, obwohl sie sich an das Evangelium Christi, an seine Beobachtung und an das Gesetz gar nicht halten, und sie glauben das Licht zu haben, obgleich sie in der Finsternis wandeln, indem der Widersacher sie berückt und irreführt, der nach dem Ausspruch des Apostels sich als einen Engel des Lichtes hinstellt und seine Diener als Diener der Gerechtigkeit erscheinen lässt. Und doch bieten sie nur die Nacht statt des Tages, das Verderben statt des Heils, hoffnungslose Verzweiflung unter dem Scheine der Hoffnung, Abfall und Unglauben unter dem Vorwande des Glaubens, den Antichrist unter dem Namen Christi, um so durch schlauen Trug die Wahrheit zu entstellen, indem sie mit ihren Lügen den Schein der Wahrheit erwecken."[13] Warum klagt Cyprian die Schismatiker gleich den Irrlehrern der falschen Lebensweise an, wieso unterschiedet er nicht? Wie bereits gesagt fehlt den von der Kirche getrennten der Hl. Geist als Führer und Erleuchter, der sie in das gottgefällige Leben einführt und ihnen das Heil ermöglicht. Diese „Scheinkirche" kann genauso aussehen wie die Kirche Christi und äußerlich gesehen die gleichen Rituale und der gleiche Lebenswandel ist auf der einen Seite Sakrament und Weg zur Vergöttlichung, auf der anderen ist es Nichtigkeit und sogar Verderben. Für Harnack bedeutete das die unheilvolle Identifizierung von geistiger Kirche mit der irdischen Institution. Die angeblich ältere Vorstellung von der Kirche als „Gemeinschaft des rechten apostolischen Glaubens" würde von Cyprian zur „einheitlich organisierten Conföderation" umgemünzt, damit es nicht mehr nur reichte, „den katholischen Glauben zu bewahren", sondern: „man den Bischöfen gehorchen musste "[14]. Dabei kommt er nicht umhin zuzugeben, dass diese Ansicht in der Kirche auch vorher schon – freilich noch nicht als „theologische Theorie" – vorkam. Man hätte zunächst nur dort von dieser Identifizierung Notiz genommen, „wo man sie nötig hatte", nämlich in der Polemik: „In der Polemik wurde die Einheit des Glaubens und der Hoffnung zur Einheit der Glaubenslehre, und in der Polemik legitimirte man die Kirche an der apostolischen Tradition statt an der Verwirklichung dieser Tradition im Gemüthe und im Leben."[15] Beim Hl. Cyprian, Harnacks Kronzeugen, scheint es jedoch genau umgekehrt. Er geht von der unsichtbaren Einheit der Liebe aus und erkennt die Gesetze dieser Liebe in ihrer ganzen Konsequenz an, wer nämlich die einmütige Liebe zu Gott verlässt, den gemeinsamen Glauben verkehrt, sich von den vormals geliebten abwendet, der hat die Liebe verletzt und ist von der Gemeinschaft losgerissen. Die Ursache ist nicht nur Ungehorsam gegenüber einem Bischof, sondern „dies kommt daher, geliebteste Brüder, dass man nicht auf den Ursprung der Wahrheit zurückgeht, dass man nicht die Quelle aufsucht und die Lehre der himmlischen Unterweisung nicht beachtet."[16] Unverkennbar bilden Glaube, Liebe und Gemeinschaft der Liebenden eine organische Einheit. Keiner kann Glauben haben ohne Gott und seine Kirche zu lieben und „wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner."(1Joh 4,20) Dass Harnack ihm vorwirft, nur nach einer unpraktizierten Tradition zu urteilen, kommt daher, dass er wie das ganze Abendland seit den „doctores" der Scholastik, zwischen Theorie und Praxis trennt. Für Cyprian bilden sie eine Einheit, so dass wer in der Theorie irrt, keine rechte Praxis haben kann und umgekehrt. So versteht sich auch von selbst, dass die Kirche als Gemeinschaft die einzig denkbare „Heilsanstalt" ist. Die Einheit der Kirche ist aber nicht nur eine absolute – in Glauben, Hoffnung und Liebe, ja in Leib und Blut – sonder auch eine konkrete, auf die man zeigen kann: hier und nicht da. Nur hier werden die göttlichen Güter gespendet, nur hier gibt es wahre Anbetung: „Der Herr aber spricht nur von seiner Kirche (bei der zuvor angeführten Stelle: Mt 18, 19f), und er redet nur zu denen, die in der Kirche stehen; sie können, wenn sie selbst eines Herzens sind, wenn sie nach seinem Gebot und seiner Mahnung auch nur zu zweien oder dreien sich versammeln und einmütig bitten, von der Majestät Gottes das gewünschte erlangen, selbst wenn es nur zwei oder drei sind."[17] Wenn die Kirche nur eine unsichtbare Realität wäre, eine Einheit von in Wirklichkeit getrennten Gliedern, dann hätte sie keine Bedeutung für uns auf Erden, dann wäre sie eine individualistische Einheit eines Einzelnen mit Gott, ohne ihn seinen Mitmenschen näher zu bringen, die „Ich-Religion", bei der das wichtigste überhaupt fehlt: die allumfassende Liebe! Die Kirche dagegen ist Gemeinschaft der Liebe, mit Gott und den Nächsten, mit der ganzen Schöpfung, dessen Haupt der Mensch ist. In diese Gemeinschaft muss man hinein geboren werden, denn „Gott kann der nicht mehr zum Vater haben, der die Kirche nicht zur Mutter hat."[18]
Die Liebe verlangt, mit jedem Glied der Kirche, vor allem aber mit dem himmlischen Vater in Eintracht zu leben. „Friedfertig müssen die Söhne Gottes sein, sanftmütig im Herzen, aufrichtig in ihren Worten, einträchtig in der Liebe und in Treue miteinander verbunden durch die festen Bande der Einmütigkeit."[19] Dieser Frieden soll nach innen wie nach außen erkennbar sein. Diejenigen, die Zwietracht sähen, die Spaltungen herauf beschwören, verstoßen gegen das Evangelium. „Wie können sich zwei oder drei in Christi Namen versammeln, von denen feststeht, dass sie von Christus und von seinem Evangelium geschieden sind?" [20] Schismatiker haben sich von der Kirche entfernt, sie haben ja die Liebesgemeinschaft verlassen, welche trotz des Verlustes als solche bestehen bleibt und in der Liebe verharrt. „Denn nicht wir sind von ihnen, sondern sie sind von uns weggegangen, und da Irrlehren und Spaltungen erst später entstanden sind, haben sie die Quelle und den Ursprung der Wahrheit verlassen, indem sie für sich gesonderte Vereinigungen gründeten."[21] Indem sie ihre eigenen Versammlungen abhalten, welche bewusst oder unbewusst im Gegensatz zu und als Absonderungen von der einen Kirche entstanden sind, besteht ihr Wesen eben darin, anders oder eigen zu sein; sie sind damit keine Liebesgemeinschaft, sondern ein böswilliges Geschwür, denn die Gemeinschaft mit der sichtbaren Kirche ist notwendig für jeden, der sich Christ nennen will. „Und den, der in Uneinigkeit lebt und zum Opfer kommt, ruft er (Gott) vom Altar zurück und fordert ihn auf, sich zuerst mit seinem Bruder auszusöhnen und erst dann friedfertig wiederzukommen und Gott seine Gabe darzubringen, weil Gott auch Kains Gabe nicht angesehen hat. Denn mit Gott konnte doch keinen Frieden haben, der mit seinem Bruder aus Zwietracht und Eifersucht keinen Frieden hielt."[22] Auch wenn die Liebe selbst an Aufrührern und Schismatikern nicht aufhört, ist es doch um des eigenen Heiles willen und wegen der Schwäche des Glaubens besser, vor ihnen zu flüchten: „Abwenden muss man sich von einem solchen Menschen und flüchten vor jedem, der sich einmal von der Kirche getrennt hat."[23]
Unzertrennlich ist der Leib der Kirche ihrem Wesen nach und doch sondern sich immer wieder Menschen von ihr ab, die Spreu trennt sich vom Weizen, könnte man sagen. Cyprian stellt eine Reihe von Vergleichen auf, welche die Einheit der Kirche charakterisieren, nur drei seien hier erwähnt: „Reiß einen Strahl los von dem Lichtkörper (der Sonne): die Einheit des Lichtes lässt eine Absonderung nicht zu; brich vom Baume einen Zweig: einmal abgebrochen, wird er nicht mehr zu sprossen vermögen; schneide einen Bach ab von seiner Quelle: sofort wird er vertrocknen."[24] Dieses unzerteilbare Wesen führt er schließlich auf Gott zurück: „Nur einen Gott gibt es und nur einen Christus, nur eine Kirche und nur einen Glauben und nur ein Volk, das durch den Kitt der Eintracht zu einem festen, einheitlichen Körper verbunden ist. Diese Einheit lässt sich nicht spalten, und der eine Leib kann durch eine gewaltsame Trennung seines festen Gefüges nicht geteilt, kann durch das Zerreißen und Zerfleischen seines Inneren nicht zerstückelt werden. Was immer vom Mutterleib sich trennt, das kann für sich gesondert nicht leben und atmen, das verliert die Grundlage des Heils."[25] Der Kirche, welche Gemeinschaft der Liebe ist, widerspricht es ihrem Wesen nach, zerteilt zu werden[26], viel zu stark ist das Band, der „Kitt der Eintracht". Sie bleibt vielmehr immer bestehen als der ewige Organismus, der sich bis ans Ende der Tage aufbaut. Cyprians ringen darum, das unbeschreibliche Mysterium auszudrücken findet seinen Ausdruck in der Apophatik, welche äußerlich als Antinomie erscheint. An diesem Punkt helfen nur Metaphern weiter: „So sendet auch die von des Herrn Licht durchströmte Kirche über den ganzen Erdkreis ihre Strahlen aus; dennoch ist es nur ein Licht, das überallhin flutet, ohne dass die Einheit ihres Körpers getrennt wird [...], es gibt nur eine Quelle, nur einen Ursprung, nur eine Mutter, die mit glücklicher Fruchtbarkeit gesegnet ist: aus ihrem Schoße werden wir geboren, mit ihrer Milch genährt, von ihrem Geiste beseelt." Der Geist belebt, erhält und beschützt die Kirche durch alle Zeiten, er ist somit das Kennzeichen für sie. Damit wird sie auf einen Ursprung zurückgeführt, ihre Konkretisierung durch die Quelle identifizierbar. Die sichtbare Kirche besitzt dabei noch einen anderen Ursprung, der wiederum Abbild des ursprunglosen Ursprungs – Gottes – ist.
 
2. Das Bischofsamt
 
Die Ortsgemeinde ist das Zeichen, worin sich die oberste Einheit der Gesamtkirche manifestiert.[27] Sie ist zugleich die Fülle der Kirche, eine Einheit der Einheit der Kirche[28]. Jeder Gemeinde steht ein Bischof vor, der Zeichen und Fundament dieser Einheit ist. Dieses Bischofsamt ist in der Gesamtkirche wiederum ein einziges, wie der Heilige immer wieder betont. „Diese Einheit müssen wir unerschütterlich festhalten und verteidigen, vor allem aber die Bischöfe, die wir in der Kirche den Vorsitz haben, damit wir auch das Bischofsamt selbst als ein einziges und ungeteiltes erweisen. [...] Das Bischofsamt ist nur eines, an dem die einzelnen im Ganzen Anteil haben."[29] Wieder stehen wir vor einem Mysterium, wenn wir uns das eine Episkopat, manifestiert in der Vielzahl der Bischöfe, vorstellen und jedem Bischof die Fülle des Priestertums zuerkennen. Niemand kann ein zweites Bischofsamt neben dem einen beanspruchen: „Es gibt nur einen Gott und einen Christus und eine Kirche und einen Stuhl, der auf Petrus durch das Wort des Herrn gegründet ist. Ein anderer Altar kann nicht errichtet, ein neues Priestertum nicht eingesetzt werden außer dem einen Altar und dem einen Priestertum. Jeder der anderweitig sammelt, der zerstreut nur."[30] Das Priestertum ist eines, ein bestimmtes, dass sich sichtbar als Einheit erweist und auch einen Ursprung hat, den Cyprian in dem Gedanken der Erstlingsberufung des Hl. Petrus zum Ausdruck bringt und den Apostel folglich als den einen Ursprung des Priestertums darstellt. Dabei argumentiert er biblisch mit der Stelle Mt.16,18, die er zeitlich vor der Austeilung der Vollmacht an alle Apostel einordnet und als Zeichen für die Einheit des Priestertums deutet. „Der Herr spricht zu Petrus die Worte: ,Ich sage dir: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich bauen meine Kirche, und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich will dir die Schlüssel des Himmelreiches geben; und was du binden wirst auf Erden, wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du lösen wirst auf Erden, wird auch im Himmel gelöst sein'(Mt 16,18f). Auf einen baut er die Kirche, und obwohl er den Aposteln allen nach seiner Auferstehung gleiche Gewalt erteilt und sagt: ,Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende auch ich euch. Empfanget den Heiligen Geist! Wenn ihr einem die Sünden erlasset, so werden sie ihm erlassen werden; wenn ihr sie einem behaltet, so werden sie ihm behalten werden'(Joh 20,21), so hat er dennoch, um die Einheit deutlich hervorzuheben, durch sein Machtwort es so gefügt, dass der Ursprung eben dieser Einheit von einem sich herleitet. Gewiß waren auch die übrigen Apostel das, was Petrus gewesen ist, mit dem gleichen Anteil an Ehre und an Macht ausgestattet, aber der Anfang geht von der Einheit aus, damit die Kirche Christi als eine erwiesen werde"[31] Petrus empfing also etwas früher, was dann alle empfingen, mehr noch: in „Ehre" (honor) und „an Macht" (potestas) waren sie immer gleich. für Cyprian ist Mt 16,18 eine Zeichenhandlung des Herrn, um die Einheit der Kirche aufzuzeigen. Ebenso ist für ihn auch der Bischof von Rom das Zeichen der Einheit; die Gemeinschaft mit ihm Symbol der Gemeinschaft mit dem Ursprung der Kirche. Der Papst hat kein Jurisdiktionsprimat, noch ist er Spender des Priestertums an die, welche mit ihm Gemeinschaft haben. Sein Vorrang besteht in einer gewissen Würde des „Ältesten". Demgegenüber legt Cyprian Wert auf die Monarchie der Bischöfe in ihrer Ortskirche. Jeder Bischof ist in seinem Gebiet Herr[32] und genießt eine gewisse Freiheit, Probleme selbst zu lösen. Er führt einmal als Beispiel einige Bischöfe an, die in einer Sache ihre eigenen Wege gingen: „Nun waren unter unseren Vorgängern auch einige Bischöfe hier in unserer Provinz der Ansicht, man dürfe Ehebrechern keinen Frieden gewähren, und sie verschlossen der Unzucht ganz und gar den Weg zur Buße. Dennoch sagten sie sich nicht los von der Gemeinschaft der Bischöfe; auch brachen sie nicht in hartnäckiger Härte und Strenge die Einheit der katholischen Kirche, indem etwa deshalb, weil bei anderen den Ehebrechern der Friede gewährt wurde, derjenige, der das nicht tat, von der Kirche sich getrennt hätte."[33] Selbst wenn man in einigen Ansichten auseinander ginge, kann die Gemeinschaft der Bischöfe bestehen. „Fest umschlungen durch das Band der Eintracht und treu ergeben dem unzertrennlichen Bunde der katholischen Kirche, entfaltet und regelt jeder einzelne Bischof seine Tätigkeit, um dereinst dem Herrn für seine Amtsführung Rechenschaft abzulegen."[34] Diese Verantwortung vor Gott wird Cyprian nicht müde auch vor dem Bischof von Rom, Stephan, zu betonen. Jedem Bischof ist seine Herde anvertraut, ein Teil der einen Herde Christi, für die er Ihm, dem Bischof und Hirten aller, Rechenschaft schuldet. Daher denkt er auch konziliar und nimmt keine Befehle von anderen Bischöfen an. „Es erübrigt nur noch, dass ein jeder einzelne von uns über eben diese Frage seine Ansicht vortrage, ohne dass wir über jemand richten oder ihn von dem Rechte der Gemeinschaft ausschließen wollten, wenn er eine entgegengesetzte Ansicht hat. Denn unter uns ist keiner, der sich als Bischof der Bischöfe aufstellt oder seine Amtsgenossen durch tyrannischen Schrecken zu unbedingtem Gehorsam zwingt, da ja jeder Bischof kraft der Selbständigkeit seiner Freiheit und Macht seine eigene Meinung hat und ebenso wenig, wie er selbst einen anderen zu richten vermag, von einem anderen gerichtet werden kann."[35] Die Versammlung der Bischöfe dient sozusagen als Ausdruck des gemeinsamen Gewissens der episkopalen Einheit[36]. So besteht zwischen den Kirchen auch eine wohlwollende Solidarität[37], eine gegenseitige Verantwortung füreinander, weswegen der einzelne auch in Fragen, die alle oder andere betreffen, eingreifen kann und muss, wie wir es in der Geschichte der Kirche immer wieder erleben.

Denn jeder Bischof hat an dem einen hohepriesterlichen Amt Christi teil und ist somit ein Abbild des einen guten Hirten der Herde der Christenheit.

 

Zusammenfassung
 
Der Hl. Cyprian war ein guter Hirt seiner  Kirche, der in allen Dingen gezeigt hat, dass die „Idee von der einen, auf den Bischöfen ruhenden, alle Christen umfassenden, festgeschlossenen Kirche" nicht „eine blosse Idee" war[38], sondern eine Realität im tiefsten Sinne ist. Wir lenken noch einmal unseren Blick auf das Volk Gottes, die „¶k-lektoi" (wörtlich: „Herausgerufene"), die von dem „Kitt" der Liebe im Geiste zu einem Organismus verschmelzen, in dem als die Zentren der einzelnen Organe die Bischöfe an dem einen Bischofsamte teilhaben, welches als Haupt seines Leibes Christus inne hat, der Geist wiederum den Kopf mit seinem Leibe zu einem gottmenschlichen Organismus – dem Gottmenschen schlechthin – verbindet, ein Mysterium, das jeglichen Verstand übersteigt und jedes Gott liebende Herz zum Lobpreis des Pantokrator aufruft.
 
Zitierte Literatur
 
Quellen:
Caecilius Cyprianus, Traktate (BKV 34), Kempten 1918
 
Caecilius Cyprianus, Briefe (BKV 60), Kempten 1928
 
Monographien:
Hans Achelis, Das Christentum in den ersten drei Jahrhunderten 2.Band, Leipzig 11912, S.1-14
 
Aneliese Adolf, Die Theologie der Einheit der Kirche bei Cyprian (Europäische Hochschulschriften 460), Frankfurt a.M. 1993, S. 1-24
 
Pierre-Thomas Camelot, Die Lehre von der Kirche (Handbuch der Dogmengeschichte Band III, Faszikel 3b), Freiburg 1970

 

Ernst Dassmann, Kirchengeschichte I (Studienbücher Theologie 10), Stuttgart 1991

 

Ders., Kirchengeschichte II/1 (Studienbücher Theologie 11,1), Stuttgart 1996

 

Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Erster Band, Tübingen 51990, S. 415-25

 

Hugo Koch, Cyprian und der römische Primat (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 35), Leipzig 1910, S. 1-6


[1] Vgl. dafür Hugo Koch, Cyprian und der römische Primat (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 35), Leipzig 1910, S. 1-6
[2] Hugo Koch, Cyprian und der römische Primat (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 35), Leipzig 1910, S. 2
[3] Für einen Überblick über diese Methode siehe Ernst Dassmann, Kirchengeschichte II/1, Stuttgart 1996, S.156-167 (oder bis 181)
[4] Hans Achelis, Das Christentum in den ersten drei Jahrhunderten 2.Band, Leipzig 11912, S.3
[5] Vgl. Ernst Dassmann, Kirchengeschichte I (Studienbücher Theologie 10), Stuttgart 1991, S. 162: „Die Schnelligkeit, mit der sich überall in der Kirche die Entwicklung gleichgestalteter und –begründeter Ämter vollzog, obwohl es ein kirchliches Zentrum oder kirchliche Instanzen, die sie hätten steuern können, nicht gab, lässt darauf schließen, daß letztlich nicht jüdische oder profane Vorbilder, sondern tatsächlich das theologische Selbstverständnis der Kirche Ämter, Verfassung und Gemeindeordnung geformt haben."
[6] Caecilius Cyprianus , ep. 73, 21, Briefe (BKV 60), Kempten 1928, S.352
[7] Im Osten hat Origenes, besonders in seiner Auslegung des Hoheliedes, die Kirche als Braut Christi ohne Makel und Runzeln beispielhaft für die östliche Theologie dargestellt. Hier wird die Gemeinde der Gläubigen aufgerufen, als Kirche diese makellose Braut zu sein. Vgl. Ernst Dassmann, Kirchengeschichte I (Studienbücher Theologie 10), Stuttgart 1991, S.160f
[8] Caecilius Cyprianus, De lapsi c2,  Traktate (BKV 34), Kempten 1918, S. 93
[9] Caecilius Cyprianus, De lapsi c4, Traktate (BKV 34), Kempten 1918, S. 95
[10] Caecilius Cyprianus, De lapsi c15, Traktate (BKV 34), Kempten 1918, S. 105
[11] Caecilius Cyprianus, De lapsi c16,  Traktate (BKV 34), Kempten 1918, S. 106
[12] Caecilius Cyprianus, De catholicae ecclesiae unitate c3,  Traktate (BKV 34), Kempten 1918, S. 135
[13] Ebd.
[14] Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Erster Band, Tübingen 51990, S. 417f
[15] Ebd.
[16] Caecilius Cyprianus, aaO.
[17] Ebd.
[18] aaO. c6, S. 138
[19] aaO. c24, S. 158
[20] aaO. c12, S. 145
[21] Ebd.
[22] aaO. c13, S.146
[23] aaO. c17, S.151
[24] aaO. c5, S.138
[25] aaO. c23, S.157
[26] Vgl. Aneliese Adolf, Die Theologie der Einheit der Kirche bei Cyprian (Europäische Hochschulschriften 460), Frankfurt a.M. 1993, S. 23f
[27] Pierre-Thomas Camelot, Die Lehre von der Kirche (Handbuch der Dogmengeschichte Band III, Faszikel 3b), Freiburg 1970, S. 22
[28] Vgl. Aneliese Adolf, Die Theologie der Einheit der Kirche bei Cyprian (Europäische Hochschulschriften 460), Frankfurt a.M. 1993, S.24
[29] Cyprian, aaO. c5, S.137 (in kursiv: wörtlichere Eigenübersetzung. Original: Episcopatus unus est cuius a singulis in solidum pars tenetur.)
[30] Caecilius Cyprianus, ep. 43,5, Briefe (BKV 60), Kempten 1928, S. 139
[31] aaO. c4, S.136
[32] Pierre-Thomas Camelot, Die Lehre von der Kirche (Handbuch der Dogmengeschichte Band III, Faszikel 3b), Freiburg 1970, S. 23
[33] Caecilius Cyprianus, ep. 55,21, Briefe (BKV 60), Kempten 1928, S. 186
[34] Ebd.
[35] Caecilius Cyprianus, Sententiae epscoporum numero lxxxvii , Traktate (BKV 34), Kempten 1918, S. 106
[36] P.-T. Camelot, Die Lehre von der Kirche (Handbuch der Dogmengeschichte III 3b), Freiburg 1970, S. 28
[37] aaO. S.22
[38] Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Erster Band, Tübingen 51990, S. 422

Sonntag, 14. Januar 2007

Die Verfasserfrage beim Kolosserbrief

Einleitung
 

Der Brief an die Kolosser steht in der protestantischen Wissenschaft im Zentrum der deutereopaulinistischen Auseinandersetzungen. Für die Mehrheit steht er genau zwischen paulinischem und pseudepigraphischen Schrifttum und soll schon nicht mehr von Paulos selbst, sondern von einer sog. „Paulusschule" verfasst worden sein. Die Meinungen gehen aber auch heute noch auseinander. Was inzwischen zur vorherrschenden Theorie unter den biblischen Theologen geworden ist, war bei gleicher Beweislage noch am Anfang des 20. Jh. stark umstritten und wurde von glänzenden Theologen verschiedener Konfession mit Erfolg angefochten[1]. So wird in der orthodoxen Theologie der „Deuteropaulinismus" nach wie vor abgelehnt. Was hat nun zur Wende geführt, welche Argumente hat man sich zu Eigen gemacht? Dieser Aufsatz soll klären, welche Beweise von der westlichen Seite angeführt werden, um dem Apostel den Kol(osserbrief) abzusprechen. Vieles wird sich klären, indem man es sorgfältig nachvollzieht und überprüft, anderes wird, von seinem subtil-argumentativen Kleid befreit, seine Blöße zeigen, wieder anderes wird, um seine Polemik erleichtert, banal und ohne Gewicht erscheinen. Die „Echtheit" der ntl Schrift lässt sich freilich nicht durch geistige Akrobatik beweisen und das zu versuchen sein fern von mir. Das sei vielmehr mein Ziel, zu zeigen, daß es bis jetzt keinen triftigen Grund gibt, den Kanon der Kirche in Frage zu stellen; nicht aus Leichtgläubigkeit oder ehrfürchtiger Scheu, sondern weil es nicht genügend Anhaltspunkte für einen solchen pseudepigraphischen Betrug gibt, und wir ohne Anlass nicht das, was längst entschieden ist, bezweifeln sollten.

 
 
1. Auf den ersten Blick
 
Der Kol gehört zu der Gruppe der so genannten Gefangenschaftsbriefe (Eph, Phil, Kol, Phlm) mit denen er eine Fülle von Berührungspunkten aufweist. So die wiederholte Thematisierung der „Fesseln" (desmo‹: Kol 4,18), d.h. der Gefangenschaft des Paulos oder die ähnlichen Gruß- und Mitarbeiterlisten. Die Nähe des Epheserbriefes zum Kol in vielen Formulierungen und im gesamten Aufbau lassen eine Abhängigkeit vermuten, wobei der Kol als primär zu gelten hat, wie eine sprachliche Untersuchung gezeigt haben soll[2]. Ist dieser Brief aber von einem Pseudographen, kann auch der an die Epheser nicht echt sein. Dabei tritt Paulus in beiden Schreiben als Verfasser besonders hervor, so daß der Brief selber keinen Zweifel lässt, daß er zumindest in Teilen vom Apostel geschrieben wurde.
Im Briefkopf (Kol 1,1) haben wir zwei Verfasser genannt, nämlich Paulos und Timotheos, die somit beide für den Inhalt des Briefes verantwortlich gemacht werden müssen. Ein seltsamer Wechsel von Ich-Redeform (z.B. Kol 1,24; 2,1; 4,7.18) und gelegentlichen Wir-Reden (z.B. Kol 1,3.9.27) unterstreicht diese Tatsache. Schließlich ist der eigenhändige Gruß des Paulos in Kol 4,18 ein auffälliger Hinweis auf die Autorität des Paulos, wie es auch in anderen Briefen üblich ist[3]. Die Grußliste weckt ebenfalls keinen Verdacht, die Namen sind uns sämtlich aus anderen Paulosbriefen oder aus der Apostelgeschichte bekannt. Ginge man davon aus, daß dieser Brief tatsächlich an die konkret angesprochene und charakterisierte Gemeinde in Kolossä verschickt wurde, so müsste jeder Täuschungsversuch durch einen Betrüger ausgeschlossen werden. Paulos hat die Kolosser zwar nach eigenen Angaben nie besucht, er muss jedoch bei ihnen bekannt gewesen sein. Zusätzlich erwähnt der Brief Epaphras und Onesimos als Gemeindemitglieder von Kolossä, die bei Paulos weilen – ein wichtiger Hinweis für die Gemeinde, um Vertrauen zu Paulos' Autorität und zur Authentizität des Briefes zu schaffen. Nachweisen lässt sich diese Korrespondenz allerdings nicht, zumal wir in späterer Zeit keine weiteren Nachrichten über eine Gemeinde in dieser Stadt haben. Sie muss sich schon wenig später aufgelöst haben[4].
Die theologischen Gedanken des Kol endlich verraten paulinischen Ursprung. Paulos denkt aber teils die Ansätze in seinen frühen Briefen weiter und setzt sich auch mit „neuen" Themen auseinander. Dabei nimmt die theologische Reflektion über einen in Kol 1,15-20 erkennbaren Hymnus einen großen Raum ein. Andererseits wird er von Epaphras veranlasst worden sein, auf die philosophischen Verirrungen der angesprochenen Gemeinde einzugehen. Die Hand des Paulos lässt sich aber keineswegs leicht wieder erkennen, so sehr  unterscheidet sich doch der „Stil" von seinen frühen Briefen, wie Gal, 1/2 Kor, Röm usw..
Die Sachlage erlaubt daher nur folgende Theorien:

1. Der Verfasser war ein bösartiger Betrüger, der die Theologie des Paulus sehr gut kannte, also: Ein Paulusschüler, der den Namen seines Meisters missbraucht hat.

2. Der Kol ist ein von einem Betrüger geschriebener Brief, der einen echten Paulusbrief eingearbeitet hat.

3. Der Kol ist ein tatsächlich auf Paulus' Autorität zurückgehender „echter" Brief, der zumindest von ihm eigenhändig unterschrieben wurde.

In ersteren beiden Fällen würde man die Abfassung des Kol in spätere Zeit, d.h. nach des Paulos Tod, verlegen und einer bis jetzt ohne jeden Beweis postulierten „Paulusschule" oder besser „Paulos-Fälscherschule" zuschreiben. Im dritten Fall erscheint er in zeitlicher Nähe zum Eph (wegen der engen Verwandtschaft der Briefe – natürlich nur, wenn der Eph „echt" ist) und besonders zum Phlm[5] verfasst worden zu sein. Einer davon könnte der Kol 4,16 erwähnte Laodizäerbrief sein, der dann zusammen mit dem Kol überbracht worden wäre[6].
 
 
2. Allgemeine Rezeptionsgeschichte des Kolosserbriefes

 

In der Alten Kirche gehörte der Kolosserbrief fest zu den Paulosbriefen. Zweifel an seiner Echtheit begegnen uns nirgends bei den Vätern und auch in den frühsten Zeugen der handschriftlichen Überlieferung hat er durchweg seinen heutigen Platz in den Briefsammlungen. Der Chester-Beatty Papyrus II (p46ca. 200 n. Chr.!) –einer der ältesten ntl Textzeugen überhaupt – und viele andere bezeugen, dass dies von Anfang an der Fall war und setzt über jede Spätdatierung von vornherein ein großes Fragezeichen. Erst recht sind Überarbeitungshypothesen auf höchst dünnem Eis beheimatet, da sich solche Vorgänge zumeist in der Textüberlieferung widerspiegeln. Man kann daher annehmen, daß der Brief schon in den frühesten Sammlungen vertreten war, die noch zu Lebzeiten des Apostels entstanden sein könnten[7]. Die von heutigen Wissenschaftlern als schwerwiegendes Problem angesehenen sprachlichen Besonderheiten des Kol werden von den Kirchenvätern überhaupt nicht erwähnt, obwohl unter ihnen viele waren (Dionysios von Alexandrien[8], Origenes, Johannes Chrysostomos, usw.), die durchaus mit kritischem Blick den Kanon des Neuen Testamentes untersucht haben. Auch im allgemeinen Prozess der Kanonbildung scheint der Kol nie ein Diskussionsthema gewesen zu sein. Seine theologischen Aussagen wurden nicht nur als apostolisch und orthodox empfunden, gerade diese Theologie sollte sogar eine große Entfaltung in der Kirche erfahren.
Der Erste, dem der Brief auffiel hieß E. Th. Mayerhoff, war protestantischer Theologe und schrieb seine „Entdeckung" 1838 nieder. Mehr noch als die sprachlichen Besonderheiten fiel ihm die Theologie als gnostisch gefärbt auf, wobei er auf die Irrlehre des Cerinth hinwies. Nach mehr als eineinhalb Tausend Jahren stellt also jemand fest, dass der Kol häretisch ist! Für ihn war die Echtheit des Briefes natürlich sehr zweifelhaft geworden.
F. Chr. Baur, wieder ein Protestant, griff diese Theorie auf, und behauptete wegen des „ächt gnostische(n) Gepräge(s),"  ein gnostischer Schüler des Paulos hätte im 2. Jh. den Brief verfasst. Als „gnostisch überarbeiteter Paulusbrief" ist der Kol zuerst von H. J. Holzmann eingestuft worden, worauf fortan ganze Generationen von Gelehrten den Brief für gnostisch hielten. Heute spricht kaum noch einer davon. Jedoch bezüglich der Echtheit finden wir die westliche Wissenschaft unserer Tage noch gespalten. Neben der häufigeren Annahme einer Fälschung, finden sich auch einige Verfechter der sog. Sekretärshypothese[9].
 
 
3. Das Für und Wider der modernen Textkritik

 

a)   Sprache:

Das größte Problem in der heutigen Forschung ist die Sprache des Kol. Sie weist tatsächlich einige Eigenheiten auf, die einer Erklärung harren. Festmachen lassen sie sich an Merkmalen, wie die Häufung von Genitivverbindungen, charakteristische Verwendung der Präposition „¶n", ein plerophorer Stil (also häufige  „all-", „immer-" und „ganz-" Wendungen), oft lockere Aneinanderreihung von Satzteilen, die Argumentation sei häufig nicht so „zwingend" wie sonst bei Paulos und schließlich: es kommen keine Fragen im ganzen Brief vor[10]. Diese Merkmale allein können jedoch die „deuteropaulinische" Verfasserschaft  des Kol nicht erweisen[11].Sie deuten im Gegenteil besondere Umstände bei der Abfassung an, weniger einen besonderen Schreibstil. Hier waltete kein persönlicher Charakter, sondern einfach nachlässiges Griechisch, für das solche „Stileigenheiten", wie sie heute als besondere Note extravaganter Schriftsteller gelten, eher fremd waren. Besonders der Satzbau, mit seinen langen Ketten von Nebensätzen und die vielen Genitivverbindungen sind wohl Produkt einer in Zeitknappheit und Bedrängnis erfolgten Diktation oder Niederschrift. Der Verfasser hatte offenbar keine Möglichkeit oder war seelisch nicht in der Verfassung, seine Sätze in die klassische Form zu bringen und nach den Gesetzen der antiken Rhetorik zu gestalten, auch wenn er vielleicht unter anderen Umständen dazu in der Lage gewesen wäre. Dabei zeigt der Kol eindeutig die Hand eines gebildeten und wortgewaltigen Theologen. Der so genannte plerophore Stil würde ebenfalls in dieses Bild passen, da er von Erregung und Ergriffenheit aber auch von Bedrängnis (geistiger oder körperlicher Natur) zeugen könnte. Immer wieder weist der Verfasser auf den Grund dafür hin: die Gefangenschaft, „die Fesseln"[12]. Der Brief ist relativ kurz, theologisch aber sehr tief. Er wird von einer einheitlichen Thematik beherrscht: Die Bedeutung Christi für die Schöpfung.

Im Aufbau weicht er von dem anderer Briefe charakteristisch ab[13] Nach dem üblichen Anfangsformular mit Präscript, Dank und Fürbitte folgt nicht der unmittelbare Anlass des Schreibens sondern eine feierliche theologische Exposition über drei Themen: Christus, Gemeinde und Aposteltum[14]. Auf Grund der poetischen Sprache, den teilweise rhythmischen Passagen und den vielen Hapaxlegomena in diesem Teil des Briefes (1,12-23), vermutet man heute einen frühchristlichen Hymnus, dessen Anfang und Ende jedoch umstritten sind[15]. Unklar ist auch ob er eine Schöpfung des Paulos oder seines Mitautors Timotheos ist oder aber aus dem Gemeindeleben übernommen wurde. Für Lohmeyer ist er der planvolle Höhepunkt und Abschluss des brieflichen Eingangs, der ganz einem Introitus eines jüdischen oder frühchristlichen Gottesdienstes nachgebildet sei, nämlich mit Schriftlesung als Gipfel, auf die dann die Auslegung folgte[16]. Tatsächlich werden die Themen dieser Passage im ganzen Brief entfaltet, und ein Großteil der bei Wissenschaftlern Anstoß erregenden Wörter (37 Hapaxlegomena[17]) erscheint in ihm oder lässt sich durch ihn erklären. Auch die als Stileigenheit eingestuften „¶n"-Verbindungen sind ein Charakteristikum des hymnischen Stückes[18] und geben so keinen Anlass zu Misstrauen.

Als bedenklich gilt oft noch das Fehlen „wichtiger paulinischer Worte", wie épokãluciw, dikaiosÊnh, §leuyer€a, §paggel€a, kauxçsyai, koinvn€a, nÒmow, pisteÊein, s–zein, svthr€a[19]. Manche Gelehrte halten dagegen, daß Paulos sich der Terminologie seiner Gegner bedient habe[20]. Im Zusammenhang mit der durch den Hymnus diktierten Theologie und der überhaupt weiterentwickelten Gedanken des Kol im Vergleich mit den frühen Paulosbriefen ist es ohnehin unnötig, den dadurch entstandenen Unterschied in der Wortwahl eigens den Argumenten gegen die Echtheit des Briefes aufzuaddieren. Das Maß der nur im Kol gebrauchten Wörter ist obendrein nicht größer als in anderen Schreiben[21] und Paulos würde sich hüten, in jedem Brief alle seine theologischen Grundthemen herunterzubeten, besonders wenn es ihm nur um ein bestimmtes Anliegen geht oder er unter schwierigen Umständen schreibt. Überhaupt scheint die Beobachtung, dass er sich nicht wörtlich wiederholt, keinesfalls gegen ihn zu sprechen (er spricht zum Beispiel Kol 1,22 vom Tode Christi ohne aber das „charakteristische" Wort „Kreuz" zu gebrauchen). Und solch einer überragenden Persönlichkeit, wie Paulos es war, abzusprechen, er habe mehr zu sagen als er in drei-vier Gelegenheitsschriften niederlegen konnte, entbehrt m. E. der Vernunft.

 

 

b)   Theologie:

Im Kolosserbrief werden auch meist eine Reihe theologischer Eigentümlichkeiten festgestellt. Das Denken in Herrschaftssphären und –räumen und die kosmische Herrschaft Christi[22] finden sich auch in den unangezweifelten Paulosbriefen, hier jedoch würde diese Perspektive zum Zentrum der Christologie ...wie sie ja vom Hymnus vorgezeichnet wurde! Nichts veranlasst jedoch dazu, diese Gedanken dem Paulos abzusprechen.

Betrachten wir weiter die Eschatologie – ein ohnehin heikles Thema für das 1. Jh. – so stößt man auf den Gedanken, der Lohn liege schon im Himmel bereit[23]. Das eschatologische Ereignis liegt schon in der Vergangenheit, wird aber erst bei der Wiederkunft Christi offenbar[24]. Für Paulos sei im Gegensatz dazu der „eschatologische Vorbehalt" kennzeichnend. Daß dies ein willkürlich konstruierter Widerspruch ist, lässt sich mit bloßem Auge erkennen, bezieht sich doch die fragliche Aussage auf die Auferstehung Christi, welche die Menschen in der Taufe nachvollziehen und auf die damit erlangte „Staatsbürgerschaft (Los, Erbe) im kommenden Reich". Ferner durchzieht die altkirchlichen Zeugnisse und insbesondere die Briefe des Paulos über das kommende „Königreich der Himmel" gerade diese Spannung zwischen „noch nicht" und „schon jetzt". Warum versucht man sie hier zu zerreißen und zu zwei verschiedenen Ansichten zweier Autoren zu machen? Der „eschatologische Vorbehalt", das „noch nicht" wird obendrein im Kol nicht verschwiegen, bemüht man sich um eine richtige Auslegung[25]. Kol 2,12.13 3,1 betont Paulos aus paränetischen Gründen die Taufgnade, welche sowohl den Hinweis auf den Tod (das Untertauchen) als auch auf die Auferstehung Christi (das Auftauchen) beinhaltet, ja der Täufling vollzieht dieses Heilsmysterium – wie Paulos immer wieder betont – an sich selber nach. Damit war er in der Lage, dieses Mysterium so auszulegen, wie es ihm für die gegebene Situation passend schien. Daß Paulos „nie von einer bereits vollzogenen Auferstehung spricht"[26] im Sinne der Auferstehung am Ende der Zeiten bleibt auch hier gewahrt. Offenbar haben manche Theologen den Kol nur nach Worten durchforstet anstatt nach seiner Botschaft[27]. Die Botschaft – besonders für die Heidenchristen – ist aber diese, dass sie vormals tot waren, durch die Taufe aber am lebendigen Leib des auferstandenen Christus teilhaben, da sie selber zu Gliedern desselben Leibes geworden sind. Darf ein Theologe wie Paulos nicht so denken ohne dass er dabei die Eschata vorwegnimmt? Die Hoffnung liegt in Kol 1,5.23 und 27 schon im Himmel bereit[28]. Ist die „Hoffnung des Evangeliums", „die Hoffnung der Herrlichkeit" nicht genau dieselbe Hoffnung, von der Paulos im Römerbrief schreibt: „Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung"(Röm 8,24)? Nicht nur sieht er die Rettung, die durch die Auferstehung Christi gekommen, logischer Weise als schon geschehen an[29], auch der Vorbehalt wird – in dem Wort „Hoffnung" ausgedrückt – nicht fallengelassen, sondern klar formuliert. Im Kol benutzt er „Hoffnung" auf dieselbe Weise. Diese Dynamik entgeht jedoch dem, der nur mit einer selbst gemachten Paulosschablone an den Brief heran geht.

Solch eine Schablone sieht man besonders an der Diskussion um Paulos' Ekklesiologie in Kol 1,18.24 u. a. und ihre Parallelen in 1 Kor 12,12f und Röm 12,4f, die nach Meinung protestantischer Gelehrsamkeit charakteristische Unterschiede zeigen[30]. So sei das in 1Kor und Röm gebrauchte Bild von der Gemeinde als s«ma XristoË nur paränetischer Natur, während ihm im Kolosserbrief eine zentrale Stellung zukomme, wo es zu einer kosmischen Realität entfaltet werde. Dazu unterscheide es sich hier in dem Gedanken, dass Christus Haupt seines Leibes, dort aber der Leib selbst sei.

Hätte sich Paulos wörtlich wiederholt, dann bestünde freilich kein Zweifel!

Zunächst sollte man auch den Kol als einen paränetischen Brief sehen, der mit solchen Bildern[31] seine Leser ermahnen wollte. Das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit und aufeinander Angewiesenseins, wie Glieder eines menschlichen Organismus, dessen Haupt, d.h. das Anführende, seine Identität Christus ist, stimmt das nicht überein, ja ergänzt sich mit dem des Organismus, der Christus selbst ist? Ja und Nein. Der Christozentrische Kol betont mehr die Gemeinschaft mit Christus, unter Seiner direkten Führung, das „mit Ihm" und will die Angesprochenen auf Ihn hin fixieren. Paulos' früheres Bild spiegelt mehr sein Verständnis von der Kirche als Leib Christi wider, das Mysterium der Gemeinschaft der Christen, bei dem Christus „mitten unter ihnen" ist (Mt 18, 20) und mahnt somit zu Eintracht und gegenseitiger Liebe. Es ist ein und der selbe Gedanke, den Paulos aufgreift, um an ihm zu verdeutlichen, dass Kirche und Gemeinde eine Realität sind, die keine nur auf sich bedachte Individuen duldet, sich aber genauso wenig von Christus trennen lässt. Die Gläubigen, die „Christus angezogen" haben, müssen sich mit Ihm identifizieren. „Universell" sind beide Vorstellungen angelegt, denn hier wie dort ist Christus „alles in Allen"[32]. Wenn man noch annimmt, der Christushymnus im Kol sei von Paulos nicht verfasst, sondern nur übernommen und vom ihm ausgelegt worden, dann war ihm diese Form des Bildes ohnehin schon vorgegeben, denn hier heißt es (Kol 1,18) „Er ist das Haupt  des Leibes, nämlich der Gemeinde". So zerfällt auch dieses Argument zu Staub.

Nimmt man dennoch an, der Brief an die Kolosser sei eine geschickte Fälschung, so steht man vor mehr Problemen als man lösen wollte. Es scheint vom Psychologischen und logischen Standpunkt aus sehr unwahrscheinlich zu sein, jemand habe in solch einer Perfektion und bis in alle Einzelheiten so bewusst gefälscht[33] und dann diese Schöpfung geschickt in das Gemeindeleben eingeschleust. Ein solcher Betrüger hätte tatsächlich gewissenlos und unchristlich gehandelt. Dabei müsste er bei der guten Kenntnis der Lehre des Apostels sein Schüler gewesen sein oder er hat ihn zumindest verehrt. Das stünde in der Geschichte einzigartig da! Die spätere sog. apokryphe christliche Literatur bedient sich zwar auch oft der ruhmreichen Apostel als Pseudonyme, aber in einer viel primitiveren Weise. Die Fälschung besteht zumeist nur darin, in der Überschrift einen fiktiven Verfasser zu nennen. Durch den simplen Stil und die naive, bisweilen verirrte Theologie heben sich solche Schriften von den echten ntl Büchern deutlich ab und lassen sich leicht der Volksliteratur zuordnen, was die Kirche auch von Anfang an getan hat[34]. Es ist einfach etwas Anderes, ein eigenes Werk mit dem Namen einer berühmten Persönlichkeit im Titel aufzuwerten oder bis in psychologische Feinheiten hinein einen persönlichen Brief zu fälschen. Die protestantische Schule, die im Kol dennoch ein pseudepigraphisches Schreiben sehen will, musste dazu mit viel Phantasie eine „Paulosschule" konstruieren und deren Vorgehen mit einer subtilen Argumentation rechtfertigen. Die Pseudepigraphie sei demnach eine Praxis in der frühen Kirche zwischen 60 und 100 n. Chr. gewesen, die mit Hilfe der Autorität eines verstorbenen Apostels Häresien in kriselnden Gemeinden zu bekämpfen suchte[35]. Soll derart „das Wort des Apostels" von einem paulinisch geschulten Theologen „zu Gehör gebracht" worden sein, dann hätten  also die Gemeinden vom ruhmvollen Märtyrertod des Paulos in Rom[36] nichts erfahren? Oder man gaukelte ihnen vor, es wäre irgendwo – z.B. in der wahrscheinlich 70/71 durch ein Erdbeben zerstörten Stadt Kollosä – einen unbekannten Paulosbrief gefunden worden. Mit welchem Recht will man solch einen Vorgang konstruieren? Es erscheint mir angesichts der Sachlage unbegründet und unrealistisch, gerade so als meinte man allein durch Geistesakrobatik einen Mord klären zu können, der vor 2000 Jahren stattfand!

 
 
Schluss
 

Wer Paulos nur aus einer Handvoll Briefe kennt, der kann ihn nicht von allen Seiten her kennen, geschweige denn wieder erkennen. Auch sollte  klar sein, daß es uns viel zu sehr an Fakten und Hintergrundwissen fehlt, um zweifelsfrei die Verfasserfrage eines Schreibens aus dem 1. Jh. zu klären.

Folgende Punkte lassen sich jedoch festhalten:

·     Die sprachlichen und stilistischen Eigentümlichkeiten reichen anerkanntermaßen nicht aus, um die Authentizität des Kolosserbriefes zu widerlegen. Die bei Weitem plausibelsten Erklärungen sind der Mitautor Timotheos, der Hymnus in Kol 1 und die besonderen Umstände der Abfassung – Lösungen, die nicht aus der Luft sondern aus dem Brief selbst gegriffen sind. Die Hapaxlegomena lassen sich so ebenfalls ohne Schwierigkeiten erklären.

·     Die Theologie des Kol ist eindeutig die von Paulos her bekannte.

·     Die angebliche Originalität lässt sich verschieden erklären. Viele postulierte Eigenheiten entpuppen sich als Variationen von Paulos' eigenen Gedanken. Nimmt man den Hymnus als Fremdgut im Kol an,  würden die meisten Probleme ohnehin hinfällig.

Paulos hat seit seinen frühen Briefen weitergedacht! Nach einer Fülle von Erlebnissen, wie wir aus seinen Briefen und aus der Apostelgeschichte nur erahnen können, ist das auch zu erwarten gewesen. Es erstaunt dabei mehr, dass seine Theologie so konstant geblieben ist, als dass Paulos neue Einflüsse und Gedanken aus den vielen Gemeinden aufgenommen hat, die er in der Zeit besuchte.

 

 

Epilog

 

Zur biblischen Wissenschaft scheint es heutzutage zu gehören, bei der Frage nach der Echtheit der ntl Schriften grundsätzlich einmal Zweifel anzumelden[37]. Es mutet zum Teil an wie bei einem Wahlkampf, bei dem geblufft, ausgespielt, taktiert wird und jeder nach persönlichem Gewinn trachtet, wenn große Theologen der katholischen bzw. reformierten Welt mit großem Selbstbewusstsein auftreten und behaupten, die „Echtheit" einer ntl Schrift widerlegt zu haben oder aus einem Brief zwei herausschälen zu können[38]; dann versuchen sie, eine Partei um sich zu scharren während Andere – meist anderer Konfession – es übernehmen, ein „feindliches Lager" zu bilden. Am Ende setzt sich eine Mehrheitsmeinung unter den Wissenschaftlern durch, welche dann als „Wahrheit" zu gelten hat bis Jemand meint, indem er das Gegenteil behauptet, für Furore sorgen zu können usw.. Sicherlich offenbart dieses System der Wahrheitsfindung seinen Sinn, wenn man die langfristige Entwicklung betrachtet. In der theologischen Wissenschaft unterliegt der jeweilige „Wahrheitsstand" besonders großen Schwankungen. Aber gerade hier wäre doch das Gegenteil – nicht zuletzt für das Heil der Christen – wünschenswert! Wie sollen wir denn Glauben, wenn ständig Unglaube und Zweifel zur Lehrmeinung der „Theologen" avanciert? Ganze Generationen werden von solchen Irrtümern getäuscht und auf diese Weise um die Botschaft der Alten Kirche betrogen. Von den kühnen Thesen eines Bultmann beispielsweise, wie die Zerstückelung des Johannesevangeliums und dessen Einordnung in die gnostisch-häretische Literatur des 2. oder sogar 3. Jh. oder die Forderung nach „Entmythologisierung" der Evangelien, hielt keine einzige einer Prüfung durch die  Zeit stand; und doch haben sie mehrere Generationen Wissenschaftler wie Laien geprägt. Es mussten erst Gelehrte aufstehen und eine „Reaktion" auf diese extremen Thesen auftragen. Gott gebe, daß es immer solche geben wird, welche die Wahrheit vor ihrem Untergang  bewahren können.
 
 
Literaturliste
 

Quellen:

Ernst, Josef, Die Briefe an die Philipper, an Philemon, an die Kolosser, an die Epheser (Regensburger NT), Regensburg  61974, S.150-2

 

Franke, A. H., Kritisch Exegetisches Handbuch über die Briefe an die Philipper, Kolosser und Philemon (Meyers Kommentar IX. Abteilung) Göttingen 51886, S. 263ff

 

Lohmeyer, Ernst, Die Briefe an die Philipper, an die Kolosser und an Philemon (Meyers Kommentar IX. Abteilung), Göttingen 81930, Der Brief an die Kolosser, S. 8-15

 

Schnelle, Udo, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002

 

Schweizer, Eduard, Der Brief an die Kolosser (EKK), Zürich-Neukirchen 1976, S. 20-27

 

[1] Vgl. z.B. A. H. Franke, Kritisch Exegetisches Handbuch über die Briefe an die Philipper, Kolosser und Philemon (Meyers Kommentar IX. Abteilung) Göttingen 51886, S. 263f
[2] Eduard Schweitzer, Der Brief an die Kolosser (EKK), Zürich-Neukirchen 1976, S. 20; dagegen z.B. H. J. Holtzmann, Kritik der Epheser- und Kolosserbriefe auf Grund einer Analyse ihres Verwandtschaftsverhältnisses, Leipzig 1872
[3] Vgl. z.B. 1Kor 16,21; 2Kor 16,21
[4] Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002, S.337; Die Stadt wurde um 70/71 von einem Erdbeben heimgesucht.
[5] So z. B. Josef Ernst, Die Briefe an die Philipper, an Philemon, an die Kolosser, an die Epheser (Regensburger NT), Regensburg 61974, S.151
[6] Vergleiche die Aussagen in Kol 4, 7-9 mit Phlm 10-12; im Präscript erscheint neben Paulos wieder Timotheos; Vergleiche auch die Grußlisten Kol 4, 10-14 und Phlm 23f: das alles weist auf dieselbe Situation hin!
[7] Vgl. Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002, S. 396ff
[8] Vgl. Eusebios, historia ecclesiaVII 25 , wo Dionysios erwähnt, dass manche Vorfahren an der Verfasserschaft des Apostels Johannes an der Apokalypse und sogar an ihrer Rechtgläubigkeit zweifelten und selber eine gemäßigte Haltung einnimmt.
[10] Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002, S. 332.
[11] Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002, S. 332f.
[12] Nach Apg 19,8.10.22; 20,31 hat sich Paulos während seiner dritten Missionsreise etwa 3 Jahre in Ephesus aufgehalten. Indirekte hinweise machen es wahrscheinlich (1 Kor 15,32; 2 Kor 6,5; 11,23), daß er während dieser Zeit inhaftiert war. Vgl. Josef Ernst, Die Briefe an die Philipper, an Philemon, an die Kolosser, an die Epheser (Regensburger NT), Regensburg 61974, S. 151; Andere These von A. H. Franke, Kritisch Exegetisches Handbuch über die Briefe an die Philipper, Kolosser und Philemon (Meyers Kommentar IX. Abteilung) Göttingen 51886, S. 263f
[13] Ernst Lohmeyer, Die Briefe an die Philipper, an die Kolosser und an Philemon (Meyers Kommentar IX. Abteilung), Göttingen 81930, Der Brief an die Kolosser , S. 9
[14] Ebd.
[15] Zumeist wird nur 1,15-20 in Versen gedacht
[16] Ernst Lohmeyer, Die Briefe an die Philipper, an die Kolosser und an Philemon (Meyers Kommentar IX. Abteilung), Göttingen 81930, Der Brief an die Kolosser, S. 9
[17] nach K. Aland (Hg.), Vollständige Konkordanz zum griechischen Neuen Testament, Bd. II: Spezialübersichten, Berlin 1978, S. 456
[18] Vgl. z. B. Kol 1,14.16.17.19
[19] „Wie wenig vertragen sich überhaupt derartige mechanische Maassgebungen grade mit den Schriften eines sich so frei bewegenden und sprachreichen Geistes, wie es Paulus war!": A. H. Franke, Kritisch Exegetisches Handbuch über die Briefe an die Philipper, Kolosser und Philemon (Meyers Kommentar IX. Abteilung) Göttingen 51886, S. 265f
[20] Josef Ernst, Die Briefe an die Philipper, an Philemon, an die Kolosser, an die Epheser (Regensburger NT), Regensburg 61974, S. 147
[21] Ernst Lohmeyer, Die Briefe an die Philipper, an die Kolosser und an Philemon (Meyers Kommentar IX. Abteilung), Göttingen 81930, Der Brief an die Kolosser, S. 12
[22] Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002, S. 333
[23] Vgl. Kol 1,5.23.27
[24] Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002, S.332
[25] In Kol 2,12 und Kol 3,3.4 lässt sich ein solcher Vorbehalt erkennen.
[26] Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002, S. 334
[27] Vgl. Ernst Lohmeyer, Die Briefe an die Philipper, an die Kolosser und an Philemon (Meyers Kommentar IX. Abteilung), Göttingen 81930, Der Brief an die Kolosser, S. 12
[28]Hoffnung ist übrigens ein charakteristischer Begriff für die Theologie des Paulos
[29] Vgl. auch die paulinische Wendung „die Heiligen in ..." z. B. 2Kor 1,1, Eph 1,1 u. a.
[30] Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002, S. 334
[31] mit dem Begriff Bild sei nicht ausgeschlossen, dass der Autor das Bezeichnete als Realität ansieht
[32] Vgl. z.B. die Zitierte Stelle 1Kor 12,6 mit Kol 1,16.17.19
[33] Josef Ernst, Die Briefe an die Philipper, an Philemon, an die Kolosser, an die Epheser (Regensburger NT), Regensburg 61974, S. 150; Vgl. auch Eduard Schweizer, Der Brief an die Kolosser (EKK), Zürich-Neukirchen 1976, S. 23f
[34] Die in 2 Thess 2,2; 3,17 erwähnten „gefälschten" Paulosbriefe müssen allein schon daran zu erkennen gewesen sein, daß ihre Theologie der des Paulos widersprach.
[35] Vgl. Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002, S.327f
[36] Es kämme auf das Selbe hinaus, wenn er auf andere Weise gestorben ist.
[37] Vgl. Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002, 21ff: seit der  protestantischen „Tübinger Schule" ist dies zur zentralen Aufgabe der Einleitungswissenschaft geworden.
[38] Vgl. Kapitel 2.

Von Br. Johannes (Bandmann)