Donnerstag, 11. Januar 2007

Theologische Grundgedanken im 2. Timotheusbrief

Einleitung

Welche Grundgedanken man im 2Tim annimmt, hängt wesentlich vom eigenen Urteil bezüglich der Verfasserfrage ab. Will uns ein "Pseudepigraph" etwas glauben machen oder schreibt hier der greise Paulos seinem Schüler ein letztes Wort? Entweder lese ich diesen Brief als Brief oder als literarische Fälschung, entweder ich betrachte das Anliegen des Paulos und seinen im Brief durchschimmernden Charakter oder ich versuche "dahinter" zu kommen, wer hinter diesem Text steht und warum er ihn geschrieben hat. So wollen wir nun versuchen diesen Brief als Brief des Paulos zu lesen, denn anders als die Mehrzahl der westlichen Wissenschaftler, seien es katholische oder protestantische, hält die orthodoxe Welt am kirchlichen Kanon als authentische Überlieferung des apostolischen Glaubens fest, ohne mit Hilfe kluger Theorien einen Brief oder ein Evangelium dieser Autorität zu entziehen und für "sekundär" zu erklären.

Paradosis

Die Weitergabe des Glaubensgutes von Generation zu Generation und vom Apostel zu seinen bischöflichen Zöglingen ist ein Zentraler Gedanke in diesem Brief. So wird für Paulos der Glaube familiär überliefert (2Tim 1,5), die Gnade aber und das Charisma des Amtes von ihm und den "Ältesten" durch Handauflegung (1,6) und Belehrung (1,13; 2,2) übergeben. Dem Empfänger kommt es nun zu, diese Gnade zu entfachen (1,6) und die Lehre zu bewahren (1,14; 3,14). Er soll sie wiederum treuen Menschen anbefehlen, die zum Lehren fähig sind (2,2). Hier wird eine Kette eröffnet, die bis zum Ende die Stabilität der kirchlichen Organisation und die Reinheit der Lehre schützen wird (1,12). Auch Paulos betrachtet sich immer wieder nur (z.B. Röm 1,1-5) als Empfänger und Tradierer, nämlich zunächst von seinen Vorfahren her (2Tim 1,3), womit er das Jüdische Volk meint, dann durch die Belehrung und Segnung zu seinem Tun durch Christus selbst (1,1.9) und schließlich durch die lebendige Überlieferung der Kirche, in der er lebt (z.B.1Tim 6,3f). Auch hier ist der Glaube schon von den Eltern gepflanzt worden, während die Unterweisung von Oben und die Segnung zum Apostelamt wichtige Voraussetzungen für seine Tätigkeit in der Kirche und für die Autorität seines Wortes, seines "Evangeliums" (2Tim 2,8) sind. So ist für Timotheos die überlieferte Lehre verbindlich, weil er weiß von wem[1] sie stammt (3,14), d.h. dass es die kirchliche Lehre, die "gesunde Lehre" (1Tim 1,10; 2Tim 4,3; Tit 1,9; 2,1) ist, die von Vorstehern wie Paulos weitergegeben wurde. Sie ist nichts anderes als das Evangelium Christi, zu dem Paulos eingesetzt ist (2Tim 1,11). Auch die Hl. Schriften dienen Timotheos als Bestätigung dessen, was er gelernt hat (3,15). Diese haben als von Gott inspiriert ihn belehrt und erzogen, sie stellen also auch ein Tradierungsmittel und eine Autorität mit erzieherischer Funktion dar (3,16). Aus dem Zusammenhang kann man vorsichtig rückschließen, dass auch die zur Lehre geschickten Apostel und Ältesten als "yeñpneustoi" (Gottinspiriert) lehren, ihre Segnung von oben bzw. die "Weihe" durch Handauflegung ihnen göttlichen Beistand verleiht (1,6). Ihnen und besonders Paulos folgt Timotheos in allem nach: in der Lehre, im Kampf, im Streben, im Glauben, in der Langmut, in der Liebe und in der Geduld (3,10). Die Nachfolge Christi durch die Apostel wird zum Vorbild für die Nachfolge der Älteren durch die jüngeren Gläubigen als sichtbaren Abbildern der christlichen Lebensweise.

Das Amt

Zusammen mit dem Thema der Überlieferung widmet sich Paulos auch dem Amt des Vorstehers, um Timotheos an seine Aufgaben heranzuführen. Der Brief erweckt den Eindruck, die Kirchenstruktur befände sich noch in der Anfangsphase ihrer Entwicklung. In der westlichen Forschung[2] meint man hier sogar zwei ursprüngliche Gemeindeordnungen nebeneinander zu erkennen: Die Episkopen- und die Presbyterverfassung. Für Erzpr. N. Afanassiev[3] dagegen geht aus den neutestamentlichen Schriften hervor, dass Bischof und Presbyter in der frühsten Zeit dasselbe Amt bezeichneten, wobei Bischof meist die Bezeichnung für den in der eucharistischen Versammlung den Vorsitz führenden Presbyter gewesen sei. Folgen wir ihm und nehmen ein Amt des Vorstehers an, dass ein oder mehrere Mitglieder einer Gemeinde bekleideten.
Wie wir schon gesehen haben erfordert das Amt eine Weihe durch andere Amtsträger sowie eine Unterweisung in der "gesunden Lehre", was sogar vor Zeugen geschieht (2,2). Auf diese Weise empfängt er die Charismen der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit (1,7). Der Hl. Geist teilt diese Charismen mit und ruht fortan in den Geweihten (1,14). Der Kandidat muss jedoch untadelig sein, tüchtig zur Lehre und stark im Glauben (2,2). Er soll sich fortan von weltlichen Geschäften freihalten, um sich ganz seinem Dienst zu widmen (2,4). Zu diesem Zweck soll er Unterhalt bekommen (westliche Exegese von 2,6). Die Bezeichnung des Streiters oder des Wettkämpfers deuten die großen Probleme in dieser Zeit an (2,3.5). Der Bischof/Presbyter muss nach innen und nach außen um Einheit und den Verbleib in der Wahrheit kämpfen. Nicht jedes Mittel soll ihm recht sein, sondern auf rechte Weise soll er streiten (2,5). Dabei soll er jedoch stets den Frieden mit allen suchen (2,22) und Streitschlichter, vielleicht sogar Richter (wie es für spätere Zeit belegt ist) sein. Die Militär- und Athletensprache sind beliebte Methaphern bei Paulos, der einerseits unter Auseinandersetzungen mit den synagogalen Juden litt, andererseits für seine asketischen Lebensweise bekannt war. Auch das Bild des Bauern, der sein Feld bestellt (1,6) ist typisch für Paulos.
Glaube, Berufung und Einsicht sind Paulos (und Timotheos) anvertraut wie ein Pfand (paray®kh 1,12 und 1,14). Das Bewusstsein dieser Verantwortung überwiegt dem einer Vollmacht – nichts betrachtet Paulos als sein Eigentum. Er sieht sich vielmehr als Gefangener Christi, d.h. im wörtlichen Sinne als Märtyrer (4,6), im übertragenen Sinne als Sklave, als Diener für und an dem Herrn (1,8), kraft seiner Gnade (1,8.9). So ist ihm auch die Herde Christi als "Pfand" anvertraut, also etwas, dass ihm nicht gehört, wofür er zu sorgen hat und was von ihm zurückgefordert wird.
Der Vorsteher teilt das Wort der Wahrheit zu (2,15): wem? Der Gemeinde. Er ist ihr Lehrer (did‹skalow) und Erzieher (2,25 und 4,2). Sein Amt ist das eines "Evangelisten" (4,5), eines Predigers. Eindeutig verbindet sich hier das Vorsteheramt mit der pastoralen Führung[4]. Für Paulos ist das charismatische Amt jedoch in erster Linie ein Leidensweg (1,12), eine zur christlichen Lebensweise noch hinzukommende Last, für die er dennoch dankbar ist, da er sie für Christus trägt und als Arbeiter auf dem Acker seiner Gemeinde als erster von den Früchten genießen wird (1,6). Wer nämlich mit Christus leidet, der wird auch mit Christus herrschen (2,12).

Christologie-Soteriologie

Der 2Tim ist kein theologischer Brief, sondern eher ein praktisch-pastoraler. Dennoch geht es nicht ohne die Theologie. 1,9-10 legt Paulos in aller Kürze einen tief theologischen und sogar poetischen Abriss des Heilsplanes Gottes vor. Er erläutert dabei das "Zeugnis des Herrn" (1,8), das man auf Anhieb als Zeugnis Christi vertehen würde, auch nachdem er 1,9 mit "der uns gerettet hat" fortsetzt, denn er benutzt "Herr" sowohl für "Gott", als auch für Christus. Aber 9e "die (Gnade) er uns gegeben in Christi Jesu" zeigt eindeutig, dass das vorher gesagte auf "Gott" bezogen ist. Hier, wie auch an anderen Stellen benutzt Paulos den Titel Herr, als wenn es egal wäre, wen von Beiden er meint – so eng gehören sie für ihn zusammen. "Die er uns gegeben in Christi Jesu vor ewigen Zeiten" ist für Johannes Chrysostomos[5] ein klarer Hinweis auf die Präexistenz und damit auf die Gottlichkeit des Sohnes. So stehen "Gott" und "Christus Jesus" immer wieder nebeneinander wie gleichwertige oder zusammengehärende Personen: "Paulos Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes nach der Verhei§ung des Lebens in Christus Jesus..." (1,1), eine beinahe trinitarisch anmutende, weil dreigliedrige Formel. "So ermahne ich dich inständig vor Gott und Christus Jesus (...), und bei seiner Erscheinung und seinem Reich..." (4,1), eine viergliedrige Formel, wobei das "Leben in Christus Jesus" und die "Erscheinung" des Herrn durchaus auf den Geist gedeutet werden können. Wir finden in dieser frühen Zeit Christus als den neu offenbar gewordenen noch nicht in ein philosophisches Schema eingeordnet, wie in geschaffenes und ungeschaffenes, gättliches und irdisches Sein u.ä., sondern neben Gott ("zur Rechten Gottes") sitzen, dem damaligen Empfinden nach in engster Beziehung zu Ihm, eben wie Vater und Sohn oder Gott und sein Logos. In unserer Betrachtung sollten wir Paulos daher nicht festlegen auf konkrete systematische Lehren, als einen, der einer alles kategorisierenden Philosophie eher apophatisch gegenüberstand. Die Frage nach dem Gottsein Christi würde er wahrscheinlich antinomisch beantworten, etwa so: "Wir haben doch nur einen Gott, den Vater (...) und einen Herrn Jesus Christus" (1Kor 8,6). Wir kännen aber positive Aussagen über Christus durchaus sammeln und in ihrer Bedeutung ernst nehmen. So ist Christus, wie gesagt, seit ewigen Zeiten bei Gott (1,9); Er ist sein geliebter Sohn (z.B. Mt 3,17; Räm 1,3 eine Bezeichnung, die später Grundlage einer tieferen Durchdringung der gättlichen Dreiheit werden wird); Er wird der Richter am Ende der Zeiten sein (4,1); Er ist der svt°r (1,10), der den Tod besiegt hat. Die Frömmigkeit des Paulos ist wesentlich Christozentrisch, was Dessen Bedeutung als Heiland über die Auferstehungstat hinaus bezeugt, denn von Ihm kommen jegliche Tugenden (1,13). Das bei Paulos oft vorkommende "in Christus" (1,1.12; 3,12) belegt die enge Verbundenheit der ganzen Schöpfung mit Ihm, dem neuen Adam und zugleich die Realität der eucharistischen Gemeinschaft an seinem Leib und Blut. Paulos bezeugt dies auch durch seine sÇma Xristoè-Theologie (z.B. Räm 12,5; 1Kor 5,15).

Eschatologie

Die Kernstellen der Eschatologie sind 2,10-13, wo Paulos wieder rhythmisch schreibt, 3,1-9, eine prophetische Charakterisierung der letzten Zeiten und 4,8. Die allseits hörbaren Vorwürfe, dass die "Naherwartung" in den Pastoralbriefen "verblasst" sei, die Parusie in "eine unbestimmte Ferne gerückt zu sein scheint"[6], die Kirche sich jetzt in der Welt "einrichtet, um das Glaubensgut über eine lange Zeitspanne hinweg zu bewahren", klingen besonders von protestantischer Seite her abwertend und offenbaren lediglich ihre Abneigung gegenüber der autoritäten Kirchenleitung. Dass die Wiederkunft Christi nach wie vor aufs innigste erwartet wurde, übersieht man dabei vällig. Aus dem "bald" wurde vielleicht ein "jeder Zeit kann", die Lebenshaltung ist dabei die selbe. Auch im 2Tim befindet man sich selbstverständlich in der "letzten Zeit". So gibt Paulos ab 3,1 eine Prophezeiung über "die letzten Tage" wieder, zählt die Laster der Menschen in jener Zeit auf, um dann 3,5 Timotheos aufzufordern, solche Leute zu meiden. Noch klarer wird die Intension des Paulos, nämlich dass die Prophezeiung jetzt eingetroffen ist, wenn er im Folgenden das Verhalten einiger gegenwärtiger Irrlehrer schildert; dabei hebt er an mit: "Aus diesen nämlich sind..."(3,6). Diesen letzten Tagen steht der letzte Tag ("¤keÛnh ² ²m¡ra": 1,12) gegenüber. Paulos erwartet also nicht eine lange Zeit bis zur Parusie, sondern jeder Tag könnte der letzte sein.
An diesem Tag erwartet Paulos die Wiederkunft und das Gericht Jesu Christi über Lebende und Tote (4,1). Den Auserwählten (¤klektoÛ), d.h. den Christen kommt das Heil (svthrÛa) in Christus mit ewiger Herrlichkeit (dñja) zu (2,10). Dazu muss der Christ mit Christus sterben (2,11); ein Hinweis auf die Taufe aber auch auf das Martyrium. Er muss dulden und treu bekennen (2,12-13), was ihm Ehre und Lohn vom gerechten Richter (4,8) bringt: die "Krone der Gerechtigkeit". Dieses Bild ruft die Gedanken des Paulos über die Rechtfertigung durch Glauben zurück, denn die "Krone" ist ein Geschenk Gottes[7], ein Preis für den "guten Kämpfer", der den Glauben gehalten hat und für alle, "die die Erscheinung Christi lieb haben". Das Martyrium und die Werke der Liebe erscheinen jedoch nicht als Verdienste der Christen, die solcher Herrlichkeit wert sind. Auch Glaube und Werke lassen sich hier nicht unterscheiden, wie das Martin Luther konsequent bei seiner Exegese tat. Das Heil ist ein Geschenk, zu dem man gerufen wird (1,9), also zu dem man freiwillig kommen muss, um es zu empfangen. Dieses Heil in Christus bedeutet, dass Christus in sich die Menschen mit Gott vereint, wodurch sie mit Ihm herrschen werden (2,12), also der Gnade nach Gottmenschen, Söhne Gottes sein werden. Seine "Herrlichkeit", eine eigentlich Gott zukommende Erscheinung, markiert dabei gleichzeitig die Wesensverschiedenheit des vergöttlichten Menschen von dem Gottmenschen der Natur nach. Von seinem Licht durchstrahlt, werden die Menschen selber Licht, wie er. Dies wird das Reich Christi sein (4,1).

Literatur

Afanassiev, Nikolaj, Die Kirche des Hl. Geistes (rus.), Paris 1971, S. 139-180
Johannes Chrysostomos, In epistulam secundam ad Timotheum commentarius homil. II, PG 62
Nestle, Erwin-Aland, Kurt, Das Neue Testament Griechisch und Deutsch, Stuttgart 427. Auflage 2003
Schnelle, Udo, Einleitung in das Neue Testament, Gättingen 42002

[1] Singular "parŒ tÛnow": Paulos, Plural "parŒ tÛnvn": die €ltesten; s. kit. App. zu 3,14
[2] Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Gättingen 42002, S. 390f
[3] Afanassiev, Die Kirche des Hl. Geistes (Cerkov ducha svjatago, rus.), Paris 1971, S. 139ff
[4] Afanassiev, Die Kirche des Hl. Geistes (Cerkov ducha svjatago, rus.), Paris 1971, S. 143ff
[5] Johannes Chrysostomos, In epistulam secundam ad Timotheum commentarius homil. II, PG 62, 608
[6] Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 42002, S. 378
[7] Johannes Chrysotomos, In epistulam secundam ad Timotheum commentarius homil. II, PG 62, 608

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